Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2023

Wolfgang Däubler über den politischen Streik
dokumentiert

Auf der fünften Streikkonferenz der Rosa Luxemburg Stiftung in Bochum hielt der Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler zum Abschluss ein Plädoyer ganz im Sinne des Mottos der Konferenz, »Gemeinsam in die Offensive«. Wir dokumentieren seine Rede in leicht gekürzter Form. In ganzer Länge ist sie auf www.daeubler.de zu finden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
[…] Wir erleben Streiks in Großbritannien und in Frankreich, Streiks in einem Umfang, wie es sie insbesondere in England seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat. Das tut gut, wenn wir morgen zu unserer Alltagsarbeit zurückkehren.
Ihr erwartet von mir vermutlich eine gute juristische Begründung für ein umfassendes Streikrecht. Insbesondere der politische Streik liegt vielen am Herzen, aber er wird von der ganzen herrschenden Meinung abgelehnt. Manche denken auch an einen Generalstreik.
Als Jurist kann man in der Tat ein politisches Streikrecht gut begründen. Das hat schon Wolfgang Abendroth getan, und das findet sich auch in der heutigen juristischen Literatur. Eigentlich ist die Sache ganz einfach. Politische Entscheidungen werden bei uns vom Parlament und von der Regierung getroffen. Beide befinden sich nicht in einem Raum der Freiheit, wo man von allen Möglichkeiten die beste wählen könnte. Sie sind vielmehr dem Einfluss starker Kräfte ausgesetzt, die den politischen und wirtschaftlichen Status quo mit Zähnen und Klauen verteidigen, die keine Umverteilung und keine Minderung der Gewinne in Kauf nehmen wollen.
Wie sich dieser Einfluss vollzieht, ist eine komplexe Frage; Lobbytätigkeiten sind nur eine Erscheinungsform. Daneben steht die Beeinflussung der öffentlichen Meinung, die Unterstützung bestimmter Parteien durch Geld, die jahrzehntelange Vermittlung der Vorstellung, dass bei uns eigentlich alles in Ordnung ist und andere Länder höchstens von uns lernen könnten. Eines ist klar: Würde eine Regierungspartei ausscheren und plötzlich den Antikapitalismus entdecken, gäbe es viele Sanktionen: Da würden Seilschaften zu Tage gefördert und unbedachte Äußerungen führender Repräsentanten, da gäbe es plötzlich eine innerparteiliche Opposition, die eine sehr gute Presse bekäme. Meistens würde das reichen, um die Abweichler wieder zur Raison zu bringen.
Parlament und Regierung sind also gar nicht so unabhängig, wie das Grundgesetz es will. Käme nun der politische Streik als Mittel der Meinungsäußerung und als Druckmittel hinzu, wäre die Situation eine andere. Den Einflüssen der Herrschenden würde eine Gegenmacht in der Bevölkerung gegenüberstehen, die eine Seite könnte nicht mehr alles bestimmen. Wir wären viel näher dran am grundgesetzlichen Prinzip der Unabhängigkeit, das Parlament hätte mehr Möglichkeiten, aus dem überkommenen Käfig auszubrechen.
Überzeugungskraft hin oder her – man kann nicht damit rechnen, dass ein Arbeitsgericht tatsächlich so entscheiden würde. Und selbst wenn es einen atypischen Arbeitsrichter und einen atypischen Arbeitnehmerbeisitzer gäbe, die in diesem Sinne entscheiden würden – spätestens in der zweiten Instanz wäre Schluss.
In Spanien, Frankreich und Italien gibt es den Generalstreik, der in der Regel einen Tag dauert und einen großen Teil des Landes lahmlegt. Ich habe mal einen spanischen Kollegen gefragt, ob das nach spanischem Arbeitskampfrecht überhaupt zulässig sei. Er lachte und meinte: »Eine typisch deutsche Frage.« Der Generalstreik sei ein soziales Phänomen, keine Aktion, bei der man nach der Rechtmäßigkeit frage. Würde man anfangen und den Streikorganisatoren den Prozess machen, wäre dies der Auslöser für den nächsten Generalstreik.

Das geht alles
Manchmal gibt es solche Phänomene auch bei uns, natürlich in sehr viel kleinerer Dimension, wie 1996 bei Daimler in Bremen. Damals hatte die Regierung beschlossen, die Entgeltfortzahlung von 100 auf 80 Prozent abzusenken. In der Metallindustrie gab es einen Tarifvertrag, dessen Auslegung umstritten war: Die einen sahen in ihm eine selbständige Garantie der 100 Prozent, die andern sahen nur einen Verweis auf das Gesetz, das eben jetzt nur noch 80 Prozent vorsah. Der Betriebsrat beraumte eine Betriebsversammlung an. Diese dauerte eine Woche, dann gab die Daimler-Führung nach, zumal sie damals Rekordgewinne einfuhr. War das ein Streik? Nur ein NDR-Reporter stellte die Frage, aber niemand war bereit, darauf zu antworten.
In neuerer Zeit gab es sog. Klimastreiks, die von Fridays for Future organisiert wurden. Bundesweit fand eine derartige Aktion zuletzt am 23.September 2022 statt, an der Hunderttausende in ganz Deutschland teilnahmen. 2019, vor Corona, waren es sogar 1,4 Millionen gewesen.
Am Freitag einfach nicht am Unterricht teilzunehmen, ist sicherlich rechtswidrig. Das hat in der öffentlichen Diskussion aber eine sehr geringe Rolle gespielt. In Baden-Württemberg forderte die Kultusministerin Eisenmann dazu auf, Bußgelder gegen die Eltern zu verhängen. Die Stadt Mannheim tat dies wirklich, musste aber wegen zahlloser Proteste alles wieder zurücknehmen. In Bayern erklärte der Kultusminister Piazolo, das Schuleschwänzen sei rechtswidrig, doch lag die Verhängung von Sanktionen in der Hand der Schulleiter. Die machten nichts oder verhängten recht originelle Strafen: Die Teilnehmer mussten beispielsweise im Fach Gemeinschaftskunde über die Demo berichten. […]
Arbeitnehmer haben es schwerer. Die Gewerkschaften haben darauf hingewiesen, wenn man teilnehmen wolle, müsse man einen Tag Urlaub nehmen oder eine so flexible Arbeitszeit haben, dass man sich vor der Demo abmelden könne. Der Gedanke, dass nichts passiert, wenn eine ganze Belegschaft die Arbeit niederlegt, kam nicht auf. […]

Keine Angst haben
Wie können wir eine Atmosphäre schaffen, dass der Streik aus seiner Ausnahmesituation herauskommt und immer häufiger Situationen entstehen, wo man beim Streik nicht mehr nach der rechtlichen Zulässigkeit fragt? […] Mir scheinen vier Punkte von Bedeutung zu sein.

  1. Die Belegschaften müssen das jeweilige Problem als das ihre begreifen. Das ist beim Inflationsausgleich der Fall, aber in wachsendem Umfang auch beim Klimaschutz. […]
  2. Die Belegschaften dürfen keine Angst vor einem Konflikt haben. Alle müssen es aushalten können, dass der Arbeitgeber grimmig schaut und mit Liebesentzug droht.
    Ich war mal von der Arbeitnehmerseite benannter Schlichter bei Tarifverhandlungen in einer Rundfunkanstalt. Es gab Warnstreiks, alle zwei bis drei Tage. Dabei wurden einige Stunden lang keine Sendungen mehr produziert; die Studios waren abgeschlossen. Die Leitung hat dann einfach das Programm eines anderen Senders übernommen: das fiel kaum auf und der Personalchef freute sich, dass er Lohnkosten sparen konnte. Ich habe mir dann die Frage erlaubt, ob man dem Sender nicht einfach den Strom abdrehen könne. Große Verwunderung, daran hatte man noch nie gedacht. Drei Leute gebe es in der Energiezentrale, die hätten aber eigentlich mit dem Streik nichts zu tun. Irgendwie kommt einem da ein Spruch in den Sinn, der Lenin zugeschrieben wird: »Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas. Wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich erst noch eine Bahnsteigkarte!«
  3. Die Gewerkschaft muss die Forderungen der Belegschaften glaubwürdig vertreten. Glaubwürdig ist man dann, wenn man das tut, was man versprochen hat. Also nicht nach dem zweiten Warnstreik klein beigeben und das Ergebnis schönreden. […]
  4. Zur Glaubwürdigkeit der Gewerkschaft gehört auch, dass sie sich um gesamtgesellschaftliche Prioritäten kümmert. Umwelt- und Klimaschutz findet sich in den Programmen, aber als Forderung an die politischen Instanzen, nicht als Leitlinie für das eigene Handeln. Immerhin sind hier wichtige Lernprozesse im Gange. Bei den 100 Milliarden »Sonderschulden« (im Schönsprech »Sondervermögen« genannt) für die Modernisierung der Bundeswehr war das nicht der Fall. Da ist Burgfriedenspolitik wie im Ersten Weltkrieg praktiziert worden. […] Ein Stück Problembewusstsein ist schon da, obwohl doch auf Anhieb klar sein müsste, dass die 100 Mrd. für nützlichere Dinge verwendet werden könnten. Und natürlich fehlen diese 100 Mrd. bei Kindergärten, in Pflegeeinrichtungen und im Straßenbau – das ist nicht nur eine Möglichkeit oder eine Gefahr, die vielleicht auf uns zukommt.

Die Ordnung verbessern
Die gewerkschaftlichen Stellungnahmen zu vielen Fragen sind die einer Lobbyorganisation, die ihre Gesprächspartner im Ministerium nicht vor den Kopf stoßen will. Diese unendlich staatstragende Rhetorik ist einer der Gründe, weshalb sich bis zu den aktuellen Streiks [von Ver.di] niemand mehr so recht für die Gewerkschaften erwärmen wollte und die Mitgliederzahlen immer mehr zurückgingen.
Das zu ändern, müsste eigentlich gar nicht so schwierig sein. Man muss nicht immer von »unserer freiheitlichen Ordnung« und »unserer Gesellschaft« reden. Man könnte ja auch mal sagen: Diese Ordnung, die wir uns so nicht ausgesucht haben, kennt enorme Ungerechtigkeiten, beim Einkommen, beim Vermögen, bei den realen Einflussmöglichkeiten. Das ist keineswegs »unsere Ordnung«, sondern eine, die wir vorgefunden haben und an deren Verbesserung wir arbeiten. Ich bin sicher, dass die Anwesenden gerne bei der Entwicklung einer deutlicheren Sprache mitwirken würden.
In Deutschland wird derzeit der Streik als Kampfmittel und als Grundrecht wiederentdeckt. Das ist gut so. Und die Zusammenarbeit mit der Klimaschutzbewegung berechtigt zu großen Hoffnungen.

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