… die Rundbriefe der Gruppe Internationale Marxisten (GIM). Das
MAO-Projekt hat das Schrifttum der radikalen Linken digitalisiert
dokumentiert
Das MAO-Projekt ist ein digitales Archiv der Schriften verschiedenster Gruppen der radikalen Linken bis etwa 1990. Wir dokumentieren einen Beitrag, den Billy Hutter auf der Webseite des Archivs dazu veröffentlicht hat.
Als mich mein Freund Käthe besucht, hat er in seiner großen Tasche seine jüngste Beute dabei: ein Stapel Rotbücher aus den 1970er Jahren (»ein Schnäppchen«), einen Ordner mit Schülerflugblättern (»Vor dem Sperrmüll gerettet«). Käthe ist ein großer Freund von altem Papier. In seiner Wohnung, weiß ich, gibt es statische Probleme. Der Vermieter ist schon vorstellig geworden. Ich dagegen neige zum Aufräumen.
Im MAO-Projekt [www.mao-projekt.de], der Datenbank »Materialien zur Analyse von Opposition« (MAO), sind seit geraumer Zeit auch die internen Diskussionspapiere der Gruppe Internationale Marxisten (GIM) – von 1969 bis 1986 deutsche Sektion der IV.Internationale – zum größten Teil zugänglich. Sie erlauben einen umfassenden Einblick in das Innenleben der damals dominierenden trotzkistischen Gruppe in Deutschland. Die Rundbriefe (RB) der GIM, eine für alle Mitglieder offene Diskussionsplattform, und die von der Leitung herausgegebenen Organisations-Informationsbriefe (OIB) – sie werden noch ergänzt durch Materialien der Revolutionär-Kommunistischen Jugend (1970–1972) – haben einen Umfang von annähernd 15000 Seiten.
15000 Seiten! Eine euphorische Lektüreempfehlung wage ich schon angesichts dieser Masse nicht zu geben und vielleicht gibt es auch andere triftige Gründe den Giftschrank verschlossen zu halten. Die Mutigen, die diese Warnhinweise ignorieren wollen, folgen bitte der Wegbeschreibung in ein kolossales Archiv.
Wegbeschreibung durch ein Labyrinth
Die Betreiber des MAO-Projekts, Jürgen Schröder [1] und Dietmar Kesten (im technischen Bereich unterstützt von Dieter Osterloh) haben vor nun über drei Jahrzehnten ihren »langandauernden Papierkrieg« begonnen, um die Entwicklung linker politischer Opposition in der BRD und West-Berlin von den 60er bis in die frühen 80er Jahre hinein möglichst breit zu dokumentieren. Es ist ein Lebenswerk geworden, ein Gebirge und eine Sisyphusarbeit, zumal für ein nichtinstitutionelles und nichtkommerzielles Projekt.
Was anfänglich stark von den persönlichen Neigungen der Archivare, die ihre Erfahrungen in maoistischen Gruppierungen gesammelt haben, geprägt war und später durch Forschungen im APO-Archiv der FU-Berlin und durch stete Eingänge aus Privatsammlungen und Nachlässen fortgesetzt wurde, hat über die Jahre Struktur angenommen. [2]
Ein riesiges, freilich unvollständiges Mosaik ist entstanden, das nach menschlichem Ermessen – angesichts der enormen Papierflut, die von der damaligen Neuen Linken produziert worden ist – auch gar nicht fertig werden kann. Seine Umrisse werden aber immer deutlicher und mancher Sektor ist schon im Detail erkennbar. Gegliedert nach Orten und Regionen auf der einen Seite, nach Themen und Organisationen auf der anderen, umfasst die Datenbank heute um die 400000 gescannte Seiten (komplette Zeitungsjahrgänge und Broschüren, Flugblätter, Demoaufrufe, ZK-Protokolle, Parteitagsbeschlüsse, Austrittserklärungen und Randglossen aus der Geschichte der radikalen Linken).
Und sie wächst und wuchert täglich weiter. Die Benutzer:innen werden durch ausführliche Inhaltsangaben und Querverweise – manchmal sind daraus richtige Abhandlungen geworden – durch dieses Labyrinth geleitet. Ein Verlaufen in den verwinkelten Gängen des Archivs lässt sich trotzdem nicht vermeiden. Ich selbst bleibe unweigerlich kleben, wenn ich auf den Artikel »Sind lange Haare fortschrittlich?« aus dem Roten Morgen der KPD/ML vom 12.Januar 1974 stoße oder auf die Zeitung Sand im Getriebe der Revolutionär-Sozialistischen Initiative aus meiner Heimatstadt Ludwigshafen am Rhein.
Die Fülle des veröffentlichten Materials hat das MAO-Projekt zur zentralen Anlaufstelle für wissenschaftliche Arbeiten zur Bewegungsgeschichte der 70er Jahre gemacht oder, da es ein vom offiziellen Wissenschaftsbetrieb misstrauisch beäugtes Unternehmen ist, wenigstens zum Ausgangspunkt vor dem Gang in die »echten«, oft streng bewachten, Papierarchive. [3]
Die Sammlung zur Gruppe Internationale Marxisten gehört zu den am besten erschlossenen Bereichen der Datenbank. Neben der Zeitung Was tun (bis jetzt sind die kompletten Jahrgänge 1968–1982 zugänglich), der Zeitschrift Inprekorr (die Jahrgänge 1971–1992) und den Infos der von der GIM aufgebauten Revolutionär-Kommunistischen Jugend (1970–1972), findet sich umfangreiches Material (Betriebszeitungen, Flugblätter etc.) aus der Arbeit der Ortsgruppen.
Auch zur Vor- und Nachgeschichte der GIM und diversen Nebensträngen (Entrismus, Internationale Kommunisten Deutschlands, Kommunistische Jugendorganisation (KJO) Spartacus, Vereinigte Sozialistische Partei, Gruppe Horizonte) gibt es eine Fülle von Dokumenten; hervorgehoben sei an dieser Stelle nur die, zuvor nur schwer zu beschaffende, Zeitschrift Sozialistische Politik (1954–1966).
Mit den nun veröffentlichten Interna kann der größte Teil – mehr als die Hälfte – des von der GIM in den 17 Jahren ihrer Existenz insgesamt produzierten Schrifttums (die Buchveröffentlichungen ausgenommen) eingesehen und durchforstet werden. Summa summarum sind das aktuell – grob geschätzt – 35000 Textseiten. Die Organisationsgeschichte der Gruppe ist damit online.
Und der Giftschrank? Auf oder zu?
Diese Menge an Text lässt mich auf die eingangs aufgestellten Warnschilder zurückkommen. Den meisten Besucher:innen des MAO-Projekts muss das Durchblättern der Rundbriefe der GIM und der Organisations-Informationsbriefe wie der Besuch auf einem fernen und seltsamen Planeten erscheinen. Allzu fremd klingen heute die Begriffe, um die damals heftig gestritten wurde: die Dialektik der Interventionssektoren, die ursprüngliche Kaderakkumulation, die Arbeitervorhut, die Betriebsaufbauzelle (BAZ). Geduld und Durchhaltekraft sind also angesagt. Es lässt sich dann die Entwicklung einer kleinen revolutionären Organisation nachvollziehen, die mit einer Trennung (der Spaltung mit IKD-Spartacus an Pfingsten 1969) beginnt und die mit einer unglücklichen Ehe endet (der spöttisch »Elefantenhochzeit« genannten Vereinigung einer kriselnden GIM mit der noch stärker kriselnden exmaoistischen KPD im Jahr 1986). Nach einer Phase des Aufschwungs – zur Jahreswende 1972/73 verschmolz die GIM mit ihrer »Jugendkaderorganisation« RKJ, die Gesamtgruppe war bis dahin, innerhalb dreier kurzer Jahre, von 40 auf 350 Aktivist:innen angewachsen – ist die zweite Hälfte der 1970er Jahre von zermürbenden, die Außenaktivität oft lähmenden, internen Debatten geprägt. Deutlich wird ein erbittertes Ringen um den einen richtigen Weg, der aus der politischen Isolation herausführt.
Zur trotzkistischen Tradition gehört das Beharren auf innerorganisatorischer Demokratie. Die Rundbriefe der GIM sind zentnerschwere Beweisstücke (oder Beweislast) für die Fortführung dieser Tradition. Aber auch in dieser, von jungen Intellektuellen geprägten Organisation werden die Kämpfe von immer denselben, meist männlichen Wortführern und Strategen ausgetragen. In das 24köpfige Zentralkomitee werden 1973 nur zwei Frauen gewählt.
Skandalöses findet sich in den Papieren indes nicht – es sei denn, man zählt den Beschuss mit einer Wasserspritzpistole zu dieser Kategorie, den Mitglieder des Politischen Büros 1978 durch oppositionelle Angehörige der Stuttgarter Ortsgruppe zu erleiden hatten (Rundbrief 93). [4]
?Ein Giftschrank wird somit gar nicht gebraucht. Die Dokumente sind in der Datenbank bis in alle Ewigkeit gut aufgehoben.
[1] Jürgen Schröder (1958–2022) ist dieser Beitrag gewidmet.
[2] Intensiv geforscht wurde auch im Archiv für alternatives Schrifttum (Duisburg), der Geschichtswerkstatt Dortmund, der Ruhruni Bochum, im Archiv Schwarzer Stern Dortmund und bei Papiertiger Berlin.
[3] Zur Bedeutung freier Archive siehe: Jürgen Bacia, Anne Niezgodka: Unsere Geschichte gehört uns. In: Die Rote Hilfe, Nr.3, 2020.
[4] Unter den Opfern war übrigens Winfried Wolf, der im Mai dieses Jahres verstorbene, spätere Chefredakteur der SoZ.
Billy Hutter war bis Mitte der 80er Jahre in trotzkistischen Gruppen aktiv. Er lebt als freier Autor in Mannheim und hat zusammen mit Jürgen Schröder u.a. die Rundbriefe der GIM für das MAO-Projekt bearbeitet.
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