München: btb, 2022. 288 S., 22 Euro
von Manuel Kellner
Auf den ersten Blick erstaunt es, dass eine profilierte jüdische Publizistin auf der Flucht aus Nazideutschland ausgerechnet im faschistischen Italien für sechs Jahre ein Refugium gefunden hat, das auch immer wieder von ihrem geschiedenen Ehemann Walter Benjamin als »stiller Hafen« genutzt wurde. Ein genauerer Blick auf die Verhältnisse, die das ermöglichten, lohnt sich.
Bis 1938 gab es in Italien keine Judenverfolgung. Mussolini hatte immer wieder gesagt, dass es in Italien »kein Judenproblem« gibt. Noch 1932 hatte er einen Juden, Guido Jung, zum Finanzminister berufen. Manche Juden hatten am Marsch auf Rom teilgenommen, waren Mitglied der faschistischen Partei und bekleideten sogar hohe Posten im Verwaltungsapparat von Regierung und Armee. Es lebten damals auch recht wenige jüdische Menschen in Italien, um die 58000, weniger als ein Prozent der Gesamtbevölkerung.
Erst am 14.Juli 1938 erschien im Giornale d’Italia ein »Manifest der rassistischen Wissenschaftler«, Mussolini selbst hatte es in Auftrag gegeben. »Die Juden gehören nicht zur italienischen Rasse«, hieß es da, sie hätten sich als einzige Bevölkerungsgruppe »nie assimiliert«. Es folgte eine verlogene und infame antisemitische Hetze. Ab dann wurden eine Reihe antijüdischer »Rassengesetze« erlassen und Maßnahmen getroffen, darunter das Ausweisungsdekret vom 7.September 1938, in dem alle »ausländischen Juden«, die sich seit 1919 in Italien befanden, aufgefordert wurden, das Land bis zum 12.März 1939 zu verlassen. Dieses Damoklesschwert schwebte nun über Dora Sophie Kellner und ihren Angehörigen.
Was hatte Mussolini zu diesem Sinneswandel veranlasst? Nach Ansicht von Eva Weissweiler der Wille, die »Achse Rom–Berlin« zu festigen, das Bündnis mit Hitlerdeutschland zu sichern. Gleichwohl gab es dann keinen Straßenterror und keine brennenden Synagogen wie in Deutschland, aber eben doch eine Vielzahl antijüdischer Maßnahmen.
Dora Sophie Kellner wollte ihren Sohn Stefan, der nach dem »Anschluss« Österreichs an Nazideutschland mit knapper Not aus Wien entkommen war, nach England schicken. Tatsächlich kam er zu einer Pflegefamilie im Nordosten Englands. Dora wollte ihm folgen, zögerte aber wegen allem, was sie sich mit der Führung des Touristenhotels in Sanremo aufgebaut hatte. Am 7.3.1938 ging sie eine Scheinehe mit dem Engländer Harry Morser ein, vor allem um einen naturalisierten Status ihres Sohns Stefan zu erreichen, was aber nicht gelang. Erst am 31.5.1940 wurde die Società Anonima Villa Verde offiziell aufgelöst.
Akribische Recherche
In der Zwischenzeit hatte sich Dora Sophie Kellner mit einem, dann drei Hotels in der ländlichen Peripherie von London tatkräftig eine neue Existenz aufgebaut. Ihr blieb im Exil keine Zeit mehr zum Schreiben. Sie musste in ihrem Leben viele Frauenrollen spielen (sie hat dieses Problem selbst einmal in einer Berliner Zeitschrift behandelt): Texte, Übersetzungen und Rundfunkbeiträge auf hohem Niveau erstellen, exzellent kochen, Hotels leiten, Kinder betreuen, begehrenswerte Liebhaberin sein und hingebungsvolle Betreuerin ihrer Kinder und eines in der praktischen Lebensbewältigung eher untüchtigen Ehemanns und Exmanns.
2020 erschien von Eva Weissweiler Das Echo deiner Frage. Dora und Walter Benjamin*. Das Refugium in Sanremo kommt da schon vor. Bei der Schilderung der Beziehung von Kellner und Benjamin unterstreicht Weissweiler die anhaltende Verbundenheit der beiden über schlimmste Krisen hinweg (mit dem Höhepunkt der Scheidung), wobei Kellner Benjamin immer fürsorglich unterstützte und auch materiell über Wasser hielt. Weissweiler legt zugleich großen Wert darauf, die journalistische und schriftstellerische Arbeit von Dora Sophie Kellner und ihren Anteil an der geistigen Arbeit von Walter Benjamin zu würdigen, was nach schlechter maskulinistischer Sitte in der umfangreichen biographischen Literatur über Benjamin rabiat unterbelichtet wird.
Eva Weissweiler hat für die Erstellung von »Villa Verde« viele unveröffentlichte Briefe ausgewertet und mit einer Reihe von Überlebenden der Familien Kellner und Benjamin gesprochen. Ihr Buch enthält unschätzbar informative Beigaben: Neben dem Anmerkungsapparat mit einer Reihe zusätzlicher Informationen ein Literaturverzeichnis, Listen der zitierten Schriften und Übersetzungen von Dora Sophie Kellner, Kurzbiografien der Familienmitglieder Benjamin und Kellner (14 Seiten), eine Auflistung der benutzten Archive sowie ein Personenregister.
Das Buch besticht durch die seltene Kombination von packender biografischer Erzählung, wissenschaftlicher Akribie und zeitgeschichtlich-politischer Relevanz. Es ist auch ein gediegenes Stück Trauerarbeit.
*Eva Weissweiler: Das Echo deiner Frage. Dora und Walter Benjamin. Biographie einer Beziehung. Hamburg 2020.
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