Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2023

Das Tarifeinheitsgesetz prägt die Deutsche Bahn
von Violetta Bock

Die Tarifrunde der EVG startete stark. Besonders hervorzuheben sind: die branchenweite Zusammenführung aller 50 Unternehmen, mit denen die EVG 2023 verhandelt; der Megastreik im März mit 31000 Streikenden an 350 Standorten; die angekündigten 50 Stunden Streik im Mai, die erst durch staatliche Klassenjustiz bei der Bahn abgesagt wurden; und nicht zuletzt die klaren Forderungen: 12 Prozent mehr, ein Mindestbetrag von 650 Euro, 325 Euro für die Nachwuchskräfte.

Die Sozialpartnerschaft sei beendet, hieß es kämpferisch. Bündnispartner in der Klimabewegung wurden und werden gesucht. Was bringt es schon, den Nulltarif im ÖPNV durchzusetzen, wenn keine Züge fahren? Was nützt es, Millionen für Investitionen in die Schiene durchsetzen zu können, wenn am Ende niemand die Züge pflegt und hinter dem Steuer sitzt? Der Kampf um die Verkehrswende ist untrennbar mit dem Kampf für bessere Arbeit im Verkehrsbereich verbunden.
Der Druck der EVG war groß. So groß, dass der Juni von Verhandlungen geprägt war. Wie der Stand ist, ist zu Redaktionsschluss nicht bekannt. Nur die vage Ankündigung, dass Kompromisslinien verhandelt worden sei, die nun den gewerkschaftlichen Entscheidungsgremien vorgelegt werden, und dass die Verhandlungen fortgesetzt werden.
Dreh- und Angelpunkt wird sein, ob ein Reallohnverlust tatsächlich abgewendet werden kann, was in anderen Branchen bisher nicht gelang. Ein Mindestbetrag wird wohl enthalten sein, wie in anderen Branchen wird er als Inflationsausgleichszahlung erklärt werden. Bleibt die Frage der Laufzeit. Die Bahn fordert 24 Monate.
Es liegt nun also alles in den Händen der gewerkschaftlichen Gremien. Details des Kompromisses wurden vor Redaktionsschluss nicht bekannt gegeben. Der Frust von Mitgliedern über die vage Kommunikation angesichts der vertraulichen Gespräche zwischen Bahn und EVG ist nachvollziehbar.
Die Kämpfe und Rangeleien bei der Deutschen Bahn finden immer vor dem Hintergrund des Tarifeinheitsgesetzes statt. Im Bahnbereich haben die Beschäftigten die Wahl zwischen zwei Gewerkschaften, die jeweils um die Mehrheit ringen.

GDL bereitet Tarifrunde vor
Unterdessen bereitet sich die GDL ihrerseits auf die Tarifverhandlungen vor. Bis Oktober gilt die Friedenspflicht. Anfang Juni präsentierte sie ihre Kernforderungen: »Fünf für fünf« lautet das Motto: fünf Forderungen für fünf Beschäftigtengruppen. Vom Wortklang erinnert es an das VW-Tarifmodell »5000 mal 5000« aus den 2000er Jahren. Der GDL geht es wohl eher darum klarzustellen, dass sie längst nicht mehr nur unter den Lokführer:innen verankert ist. Sie fordert:

  1. 555 Euro allgemeine Entgelterhöhung sowie eine deutliche Entgelterhöhung für Azubis und Erhöhung der Zulagen für Schichtarbeit (zum Beispiel der Nachtarbeitszulage) um 25 Prozent;
  2. Senkung der Arbeitszeit von 38 auf 35 Stunden pro Woche für Schichtarbeiter ohne anteilige Lohnabsenkung;
  3. zusätzlich eine steuerfreie Inflationsausgleichsprämie in Höhe von 3000 Euro, gleich ob für Teilzeit- oder Vollzeitarbeitende;
  4. Prozent Arbeitgeberanteil für die betriebliche Altersvorsorge;
  5. Einführung der Fünf-Schichten-Woche für Beschäftigte im Schichtdienst.
    Neben Lohnforderungen stellt die GDL also auch Forderungen zur Arbeitszeit. Der Vorsitzende Claus Weselsky berichtete auf der Pressekonferenz stolz, wie die GDL ihre Forderungen auf einer Veranstaltung mit 650 Mitgliedern in Berlin vorgestellt habe.
    Die GDL hat jedoch ein Problem, ihre Tarifverträge kommen nur sehr begrenzt zur Anwendung. Die Bahn hat eine Mehrheit der GDL nur in 16 Betriebe anerkannt, weshalb sich Gewerkschaft und Bahn in einer ewigen juristischen Prüfung befinden, die die Schwächen der Anwendbarkeit des Tarifeinheitsgesetz deutlich machen. Laut GDL sind 80 Prozent der Lokführer bei ihr organisiert.

Macht durch Machen – »Fair Train«?
Vor diesem Hintergrund wartete die GDL bei ihrer Pressekonferenz mit einer überraschenden Ankündigung auf, wie sie dem Problem begegnen will – nämlich mit der Gründung der Genossenschaft »Fair Train e.G.«
Bei vielen gesellschaftlichen Fragen verhallen Appelle an die Bundesregierung derzeit ohne Wirkung. Nicht nur die Klimabewegung, auch im Mietenbereich gelingt trotz großem gesellschaftlichen Druck kein Durchbruch. Selbstverwaltete Strukturen (Wohnungsbaugenossenschaften, autonome Frauenhäuser, Kinderläden…) haben in der Vergangenheit dazu beigetragen, dass der Staat manche Aufgaben erst übernommen hat, weil sie ohne seine Kontrolle auch immer Potential für Gegenmacht boten.
Die GDL möchte mit der Genossenschaft Gegenmacht zur Bahn aufbauen. Die Erfahrung, dass selbst ausgehandelte Tarifverträge nicht von allen Unternehmen angewandt werden, der Fachkräftemangel aber zu wachsendem Bedarf an Personal und damit zu einer Marktmacht führt, und nicht zuletzt die existentielle Bedrohung der GDL durch das Tarifeinheitsgesetz sind der Hintergrund für diesen Coup.
Ihre Rechnung dabei ist zugleich auch eine Kritik am Management der Bahn: In der Genossenschaft will sie schlanke Overheadstrukturen statt viele gut bezahlte Führungskräfte. Sie will Dividenden an die Genoss:innen ausschütten und zudem durch das Genossenschaftsmodell eine selbstverwaltete Struktur. Anteilseigner können nur GDL-Mitglieder werden.
Formal ist die Genossenschaft von der GDL getrennt und derzeit bei der Aushandlung eines Tarifvertrags. Im ersten Schritt sollen nur Lokführer:innen bei ihr anheuern können (sie müssen nicht Mitglied der GDL sein), um dann an Bahnbetriebe ausgeliehen zu werden. In Zukunft könnten weitere Berufsgruppen und Auszubildende dazu kommen. Die GDL möchte damit Lokführer von der Bahn abwerben, sie rechnet nicht damit, dass die DB bei ihr Kräfte anfragt, sondern eher private Bahnbetriebe. Durch die Bündelung der Arbeitskraft Lokführer soll der DB der Kampf angesagt werden.
Die Genossenschaft Fair Train ist vom Glauben an die Marktwirtschaft getragen und soll »wertschätzend und wertschöpfend« agieren, wie es Weselsky formuliert. Die Produktionsmittel bleiben bei den privaten Bahnbetrieben. Am Ende führt es zur Ausbeutung von Lokführer:innen durch Genoss:innen.
Keine Genossenschaft kann die Gesetze der kapitalistischen Marktwirtschaft aushebeln und dies ist bewusst auch nicht der Anspruch von Fair Train. Es zieht eher Beschäftigte aus dem öffentlich Sektor in eine private Firma und könnte damit die Bahn selbst zu Ausgliederungen antreiben. Die Klasse wird weiter gespalten und es ist fraglich, dass Beschäftigte bei Fair Train ebenso entschlossen streiken, wenn sie selbst, sofern sie Genossenschaftsanteile haben, in unternehmerische Entscheidungen gezwungen werden. Letztendlich ist die Genossenschaft eine Leiharbeitsfirma. Und Leiharbeit gehört abgeschafft.

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