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Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2023

Identitätskampf von Rechts
von Bernard Schmid

Auch in Frankreich ist Identitätspolitik zum politischen Kampfbegriff geworden. Rechte und konservative Kreise bemühen hier das mittlerweile berühmt-berüchtigte Doppelwort vom islamo-gauchisme, einer Konstruktion aus den beiden Adjektiven islamique und gauchiste. Letzteres, abgeleitet von gauche (links), steht traditionell – und in meist abwertendem Sinne, auch wenn manche Personen es in der Vergangenheit trotzig als Selbstbeschreibung benutzten – für einen Linksradikalismus oder Linksaktivismus.

In einem großen Rundumschlag handeln bürgerliche Quellen in jüngerer Zeit oft alle möglichen gruppenbezogenen Politikansätze gleichermaßen unter dem Label der Identitätspolitik ab und drängen sie dadurch in eine vermeintlich ihnen allen gemeinsame, mehr oder minder anrüchige Ecke ab.
Exemplarisch steht dafür eine dreiseitige Titelgeschichte der konservativen Tageszeitung Le Figaro vom 26.Februar 2021: »Gendertheorie, ›Entkolonialismus‹ (décolonialisme), Rassialismus: Die neuen Dogmen, die sich in Frankreich durchzusetzen versuchen«, steht dort geschrieben.
»Die Kontroverse zum Islamo-Gauchismus … ist nur die Spitze des Eisbergs eines viel breiteren Kampfes. Dieser wird von politischen Verantwortlichen, Akademikern und Intellektuellen einer neulinken Blase geführt, die in alle Sektoren der Gesellschaft einzudringen versuchen. Sie bestreiten alle traditionellen Bezugspunkte der westlichen Zivilisation. Rasse, Geschlecht, Religion und Identität sind dabei ihre heiligen Symbole, um die Revanche der Minderheiten über die ›Dominanz der weißen Männer‹ zu erzielen. Jede Gelegenheit ist günstig, um die zahllosen ›Unterdrückungen‹ des Systems anzuprangern und sich zum Opfer aufzuschwingen.«
Auf den drei Zeitungsseiten werden dabei die Themen von Kämpfen gegen Homosexuellen- und Transsexuellendiskriminierung, »der politische Antirassismus« sowie der bereits angeführte islamo-gauchisme kunterbunt durcheinander gewürfelt. Die herbeifantasierte Gesamtbewegung hat kaum etwas mit der Realität zu tun: Schwule und Lesben dürften kaum Gemeinsamkeiten mit den Vertretern des Islamismus suchen – und umgekehrt ebensowenig. Sie funktioniert aber als Selbstvergewisserung der oben zitierten »weißen Männer«, die angeblich um ihre Privilegien fürchten müssen.
Eines der Kernkonzepte beruht dabei auf der Wortschöpfung »Wokismus« (wokisme), d.i. eine im Englisch nicht existierende und zuvor auch im Französischen nicht vorhandene Bezeichnung, die auf den Ausdruck woke (aufgewacht, erwacht) Bezug nimmt.
Er war in der Bürgerrechtsbewegung in den Südstaaten der USA in den 1960er Jahren benutzt worden, um Menschen zu bezeichnen, die zu einem Bewusstsein von der Notwendigkeit gemeinsamen Handelns und ihrer Stärke gekommen waren. Auch in der Bewegung nach der Tötung von George Floyd im Frühsommer 2020 wurde zum Teil auf ihn rekurriert. In scheinbarem Nachäffen dieser Begrifflichkeit prägten nun französische Redaktionen, angefangen bei Medien wie dem konservativen Figaro und dem zwischen Konservativen und Rechtsextremen angesiedelten Wochenmagazin Valeurs actuelles, einen neuen politischen Kampfbegriff.

Wokismus als Totschlagargument
Der Begriff wird gerne als Totschlagsargument in allen möglichen und unmöglichen Zusammenhängen für Ansprüche von »ethnischen« oder religiösen Minderheiten gebraucht – etwa wenn Menschen oder Gruppen sich, ob nun zu Recht oder Unrecht, über »Islamophobie« beschweren, aber auch wenn Antidiskriminierungsforderungen erhoben werden.
Die Palette der Themen ist erweiterbar: Grüne Rathausregierungen (seit Juni 2020 regiert die Ökopartei EE-LV erstmals mehrere französische Großstädte von Straßburg über Lyon bis Bordeaux) wollen vegetarische Menüs in Schulkantinen anbieten? »Wokismus«, schallt es zurück! Die linksgrüne Politikerin Sandrine Rousseau fordert Maßnahmen gegen strukturelle Frauendiskriminierung? »Wokismus!« Menschen modeln die Rechtschreibung im Bemühen um »geschlechtergerechte Sprache«? »Wokismus«!
Ähnlich verhält es sich mit der Kampfvokabel vom islamo-gauchisme. Diese suggeriert, es gebe eine gemeinsame Bewegung von Linken und von Islamisten, sie zögen an einem Strang. Bezug genommen wird dabei immer wieder auf das Oppositionsbündnis im Kampf gegen das autoritäre Schah-Regime im Iran 1977/78, wo innerhalb der Massenbewegung linke Strömungen und Khomeini-Anhänger in der Konfrontation mit dem gemeinsamen Feind kurzfristig und stellenweise kooperierten.
Würde man konkret über Analysen debattieren wollen, die das strategische Verhältnis zum politischen Islam und eventuell auch gravierende Fehleinschätzungen einzelner Personen oder Strömungen innerhalb der Linken zum Gegenstand hätten – es gäbe sicherlich Diskussionsstoff dafür.
So behauptete der vor seiner Pensionierung (2016) am nationalen Forschungszentrum CNRS beschäftigte Politikwissenschaftler und Islamforscher François Burgat spätestens seit seinem 1995 veröffentlichten Buch L’islamisme en face, letzterer stelle etwa in den Maghrebstaaten im Kern eine echte Befreiungsbewegung dar und sei als solche positiv zu bewerten. Ihr Unterschied zur marxistischen Linken bestehe lediglich darin, dass diese sich eines aus Europa »importierten Vokabulars«, der Islamismus sich jedoch in der einheimischen Kultur verwurzelter Konzepte bediene.
Einen Hinweis auf den reaktionären, repressiven Charakter des Islamismus suchte man dabei vergebens. Burgat stand jedoch nie im Zentrum der akademischen Debatten und wurde auch oft angefeindet, mit begründeten oder auch unqualifizierten Vorwürfen.
Im politischen Raum popularisiert hatte den Begriff im Winter 2020/21 auch die amtierende Hochschulministerin Frédérique Vidal, die kurz nach der Demonstration vom November 2019 sowie am 14.Februar 2021 in einem Interview für den teilweise rechtsextremen Privatfernsehender CNews von einem schädlichen Einfluss des islamo-gauchisme an französischen Universitäten sprach.
Dabei hatte sie mitnichten jemanden wie den bereits pensionierten François Burgat im Blickfeld, sondern vielmehr all jene, die in den Sozialwissenschaften nach gesellschaftlichen Erklärungen für die Verankerung islamistischer Strömungen suchen (»verstehen bedeute entschuldigen«, tönt es immer wieder) oder postkoloniale Studien betreiben. Vidal erklärte dazu in ihrem Interview, sie werde eine Untersuchung ihres Ministeriums anordnen, um solchen wissenschaftsschädigenden Umtrieben auf die Schliche zu kommen. Kurz darauf kritisierten die Hochschulrektorenkonferenz und das nationale Forschungszentrum CNRS die Ministerin in einer ungewöhnlich scharfen gemeinsamen Erklärung: Ihre Aussprüche hätten »keinerlei wissenschaftliche Grundlage«.

Radikaler Kurswechsel
Vor etwas mehr als einem Jahr kam es zu einer großen Überraschung aus dem Regierungslager.
Wie um die weltanschauliche Elastizität des Liberalismus zu unterstreichen, entließ Emmanuel Macron am 20.Mai 2022 seinen bisherigen Bildungsminister und ernannte einen neuen.
Der alte war der ursprünglich von den Konservativen kommende Jean-Michel Blanquer, ein Mann, dessen Name zusammen mit dem seiner oben zitierten Kollegin Frédérique Vidal untrennbar verknüpft ist im regierungsoffiziellen Kampf gegen den islamo-gauchisme, zu welchem er höchstpersönlich Seminare organisierte.
Neuer Amtsinhaber wurde der von einem senegalesischen und einem französischen Elternteil abstammende Hochschullehrer Pap Ndiaye. Er hatte zuvor eine Doktorarbeit über antirassistische Bewegungen in den USA verfasst, Bücher über politische Interessen von Minderheiten geschrieben und mindestens einmal Verständnis für eine nur für Schwarze geöffnete Versammlung über Diskriminierungserfahrungen bekundet, sowie ein Museum für die Geschichte der Immigration in Frankreich an der Pariser Porte Dorée* geleitet.
In punkto Positionierung zu Minderheitsgruppen und »Identitätspolitik« darf dies, mindestens symbolisch, als radikaler Kurswechsel gelten. Entsprechend fielen die Reaktionen aus, und während der Linkssozialdemokrat Mélenchon – er fand sonst gewiss kein gutes Wort für Macrons neue Regierung – diese Ernennung begrüßte, stand das Spektrum rechts von der Mitte Kopf, wo doch soeben die Republik einstürzte.
Ex-Präsidentschaftsbewerber und Parlamentskandidat Eric Zemmour twitterte drauf los: »Die gesamte Geschichte Frankreichs wird im Licht des indigènisme [Denkens der indigènes de la République], der Woke-Ideologie und des islamo-gauchisme umgeschrieben werden.« Nichts weniger als das. Es deutet darauf hin, dass künftige ideologische Auseinandersetzungen mit harten Bandagen ausgetragen werden.

*Eines der siebzehn ehemaligen Stadttore von Paris, das in den 1840er Jahren rund um die Stadt errichtet wurde.

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