Anmerkungen zu einer systemkonformen Westkritik
von Erhard Weinholz
Sechs Auflagen binnen weniger Wochen, vordere Ränge auf der Spiegel-Bestsellerliste: Dirk Oschmann, Jahrgang 1967, Professor für deutsche Literatur an der Leipziger Uni und einer der wenigen aus dem Osten stammenden Lehrstuhlinhaber hierzulande, scheint mit Der Osten: eine westdeutsche Erfindung* einen Nerv getroffen zu haben. Doch wen spricht sein Buch an?
Amazon gibt einen Fingerzeig: Es werde oft zusammen mit Abelows Wie der Westen den Krieg in die Ukraine brachte gekauft. Für nicht wenige ist ja der Westen an allem schuld, der ganze Westen und nichts als der Westen; die Anhänger dieser Legende haben Oschmanns Arbeit dann auch begeistert besprochen und immer noch eins draufgegeben: Der Westen hat die DDR-Industrie zerstört, hat Millionen in die Arbeitslosigkeit geschickt, einen geschichtlich einmaligen Elitentausch veranstaltet…
Oschmann dagegen gesteht diesem Tausch einige Berechtigung zu, geht aber insgesamt davon aus, dass die Bundesrepublik keine Aussicht auf längerfristige gesellschaftliche Stabilität habe, wenn »die seit über 30 Jahren bestehenden systematischen Ächtungen und radikalen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Benachteiligungen des Ostens nicht aufhören«.
Nun sind zwar insbesondere durch die AfD-Erfolge in Sachsen und Thüringen Freiheit und Demokratie selbst in ihrer bürgerlichen Form heute stärker gefährdet als noch vor zwanzig Jahren, ob das aber diesen Benachteiligungen geschuldet ist oder mehr einer gerade im Süden verbreiteten, erzkonservativen, autoritär-nationalistischen Grundgesinnung ist schwer zu sagen. Mit größerem Jubel als im Dezember ’89 in Dresden ist Kohl wohl nie empfangen worden.
Benachteiligt wird und ist der Osten zweifellos. Vor allem, wie der Autor schreibt, beim Einkommen und beim Vermögen, bei den gesellschaftlichen Teilhabe- und Gestaltungsmöglichkeiten – so sind an maßgeblichen Stellen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft kaum Ostler zu finden –, und schließlich durch die herrschende Sicht auf das Ostvolk.
Gerade beim Thema Vermögen bleibt jedoch unklar, was Oschmann anstrebt: Etwa eine Vermögensstruktur wie im Westen, die ja ebenfalls durch enorme Ungleichheit bestimmt ist? Und wenn er meint, für die meisten im Osten habe sich der Wunsch, »an dieser Gesellschaft teilzuhaben und sie mitzugestalten«, nicht erfüllt, dann irrt er insofern, als das Bemühen um eine Teilhabe, die über den Gang zur Wahlurne hinausgeht, hier eher die Ausnahme zu sein scheint. Abgezeichnet hat sich das schon im Herbst 1989: Millionen haben demonstriert, in den neuen Bewegungen und Gremien mitgearbeitet hat nur ein Bruchteil davon.
Die Eigenheiten des Ostens
Den größten Raum nimmt in Oschmanns Buch das titelgebende Thema ein: das Bild, das der Westen vom Osten entwirft, die Art wie er ihn – herrschaftssichernd – öffentlich zurichtet. Der Westen verstehe ihn als Abweichung, sich selbst als die Norm, der Ostler, so fasse ich es mal zusammen, stehe im wahrsten Sinne des Wortes als der Dumme da. Darin, und nicht in der Eigenart des Ostens sieht Oschmann das große Problem.
Ganz ohne Blick auf die Ost-Eigenheiten geht es dennoch nicht: Im Westen, so Oschmann, glaube man z.B., der Osten verfüge nur über Diktaturerfahrung, könne daher in Sachen Demokratie nicht mitreden – dabei habe er dem Westen sogar Erfahrung voraus, die Erfahrung des Umsturzes nämlich.
Aber die Erfahrung ist das eine, wie man sie wertet, was man daraus macht, das andere. Hier gibt es im Buch eine große Leerstelle, die jedoch bei einem Befürworter der Einheit nicht verwundern muss: Das Gros der Ostler wollte – aus durchaus verständlichen Gründen – die D-Mark und den Westwohlstand, die wiederum waren nur durch den Beitritt zur Bundesrepublik zu erreichen. Und da das bessere Leben möglichst rasch kommen sollte, gab es erheblichen Druck auf den Westen, u.a. durch etwa 600000 Ost-West-Übersiedlungen binnen weniger Monate.
Die Folge war eine überstürzte Wirtschafts- und Währungsunion, die zum Untergang des größten Teils der DDR-Wirtschaft führen musste (als Ganzes wäre sie sowieso nicht zu retten gewesen). Der Osten hat mit überwältigender Mehrheit die Selbstbefreiung dazu genutzt, sich dem Kapital zu unterwerfen, so ist er zwar dessen Opfer, aber durchaus kein unschuldiges. Auf ihn herabgeschaut hatten viele im Westen schon immer, doch nun war der Weg zur Begegnung auf Augenhöhe, die Oschmann sich wünscht, noch mehr verbaut.
Dass der Beitritt Unterordnung bedeutet, spricht er einmal kurz an, doch wird der Eigenanteil des Ostens an der Entwicklung nirgendwo bei ihm verdeutlicht und untersucht.
Vermutlich war sein Buch gerade deshalb ein Erfolg. Ich bezweifele aber, dass diese Sicht dem Osten weiterhilft. Es sei höchste Zeit, so heißt es z.B. zuletzt, dass er »auch mal mit sich selber redet, schon um zu verhindern, dass der Westen ihm sagt, wer er sei … und ihm obendrein noch seine Geschichte erzählt«. Wohl wahr. Ein Ort dafür war die Zeitschrift Horch und Guck. Kaputtgemacht wurde sie nicht vom Westen, sondern von Linkenfressern aus dem Osten.
Und wenn der Aufstieg von Ostlern blockiert wird, so bedeutet das ja nur die regionale Pauschalisierung der überall in der Bundesrepublik zu findenden Diskriminierung aufgrund unpassender Herkunft. Man wird die eine daher nicht ohne die andere überwinden können.
Wahrscheinlich lassen sich die meisten Sonderprobleme dieses Landesteils – wenn überhaupt – nur lösen, wenn man sie in den Zusammenhang gesamtdeutscher Probleme und Auseinandersetzungen stellt. Doch eben das ist Oschmanns Sache nicht.
*Dirk Oschmann: Der Osten: eine westdeutsche Erfindung. Berlin: Ullstein, 2023. 222 S., 19,90 Euro.
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