Formen gesellschaftlicher Arbeit und Klassenpolitik (V – selbständige Arbeit)
von Ingo Schmidt
Beim Thema »Selbständige Arbeit« wird schnell klar, was in der liberalen Gesellschaft zählt und was nicht. Lohnarbeit ist es nicht, unbezahlte Arbeit auch nicht und Zwangsarbeit erst recht nicht.
Die Ideologieproduzenten des Liberalismus setzen selbständige Arbeit mit Unternehmertum gleich und preisen dessen Fleiß und Innovationskraft. Damit werden, auch wenn es nur selten offen gesagt wird, Nichtunternehmer, wie immer sie ihren Lebensunterhalt bestreiten, als etwas lahmarschig dargestellt, als Menschen, die ohne Anleitung durch andere, Unternehmer nämlich, nichts auf die Reihe kriegen.
Den so Herabgewürdigten ist die Faszination des Unternehmertums nicht fremd. Nicht, dass viele ernsthaft glauben, sie würden irgendwann in einer Reihe mit Jeff Bezos oder Elon Musk stehen. Aber sich selbständig machen, keinen Boss mehr zu haben, das wäre schon schön. Viele versuchen es auch, auch wenn die Zahl der Unternehmensneugründungen nicht nur die enthält, die sich selbständig machen wollen, sondern auch jene, die in die Scheinselbständigkeit gedrängt werden. Und obwohl das Risiko der Pleite bei Neugründungen besonders hoch ist.
Trotz des überdurchschnittlichen Insolvenzrisikos bei neuen Unternehmen und trotz fortschreitender Konzentration und Zentralisation des Kapitals: Selbständige Arbeit trägt immer noch in erheblichem Maße zur gesellschaftlichen Reproduktion bei, in Kleinbetrieben, Scheinselbständigkeit und informellen Sektoren, die in manchen Ländern des Globalen Südens mehr zur Reproduktion beitragen als die selbständige und lohnabhängige Beschäftigung.
Selbständige Arbeit spielt zudem eine Schlüsselrolle für die ideologische Reproduktion des Kapitalismus. Die liberale Vorstellung einer Marktgesellschaft, in der gleichberechtigte Warenbesitzer, frei von Hierarchien und Macht nach Belieben und zum Zwecke des Tausches produzieren, lässt eine andere Art von Arbeit gar nicht zu. Angesichts der Macht, die Unternehmen über bezahlte und unbezahlte Arbeit tatsächlich haben, hält die liberale Ideologie immerhin die Möglichkeit offen, dass jeder Mensch frei sei, sich als Unternehmer zu versuchen.
Für diejenigen, die auch das nicht schaffen, gibt es ein Trostpflaster: Statt als Lohnabhängige dürfen sie ihre (Arbeits-)Markttauglichkeit als Arbeitskraftunternehmer erweisen, auf sich allein gestellt, selbständig eben. Und möglichst ohne gewerkschaftliche Organisation.
Selbständige Arbeit und Unternehmertum
Unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen bedeutet selbständige Arbeit, Produktionsmittel zu besitzen und über deren Verwendung zu entscheiden. Das schließt die eigene Benutzung dieser Produktionsmittel ein, aber auch die Beschäftigung von Lohnarbeit.
Diese Form des selbständig wirtschaftenden Unternehmers gibt es nur in Klein- und Mittelbetrieben, Großbetriebe stellen Geschäftsführer ein. Aufgrund der Größe der von ihnen geleiteten Unternehmen haben solche Chefs mehr Macht als selbständige Unternehmer, sind aber gegenüber den Eigentümern rechenschaftspflichtig und in Sachen strategischer Ausrichtung auch weisungsgebunden.
In Aktiengesellschaften, die vorherrschende Unternehmensform unter den Großen, müssen sich selbst Vorstandsvorsitzende mit anderen Mitgliedern des Vorstands abstimmen. Werden die von der Aktionärsversammlung oder dem Aufsichtsrat vorgegebenen Renditeziele verfehlt, werden Vorstände auch mal schnell gefeuert. Wie Trainer, wenn die Mannschaft nicht den gewünschten Tabellenplatz erreicht. Mit dem liberalen Ideal des eigenverantwortlichen Unternehmers hat das wenig zu tun.
Das gilt bei kleineren Betrieben schon eher – aber deren Macht ist durch die Großen begrenzt. Ob Dönerbude und Späti, Anwaltskanzlei oder Arztpraxis, Autowerkstatt oder Hersteller hochspezialisierter Produkte – keiner solcher Betriebe konkurriert direkt mit Industrie- oder Dienstleistungskonzernen. Die bedienen andere Märkte.
Die Nachfrage nach ihren Produkten hängt aber in erheblichem Maße vom Gang der Konjunktur ab. Ob diese rauf oder runter geht, Konsumenten sich zurückhalten oder auch mal ein paar Euro mehr springen lassen, hängt von den Investitionen der Großunternehmen und der jeweiligen Geld- und Fiskalpolitik ab, nicht von formal selbständigen Unternehmern in Klein- und Mittelbetrieben.
Auch in Sachen politischer Regulierung haben deren Verbände weniger Einfluss als der Lobbyismus der Großen. Zudem sind viele der kleineren Betriebe mehr oder weniger direkt in die Lieferketten der Konzerne eingebunden – als Anwaltskanzleien und Unternehmensberater, als Franchisenehmer, spezialisierte Zulieferer oder Industriedienstleister.
Zudem sind all diese Bereiche Konzentrations- und Zentralisationstendenzen ausgesetzt. Diese werden nicht zum Verschwinden des Sektors kleiner und mittlerer Unternehmen führen, setzen aber bestehende Betriebe beständig unter Druck und drängen viele in die Pleite.
Es darf allerdings erwartet werden, dass sich auch immer wieder neue Bereiche kleinunternehmerischer Tätigkeit auftun. Die dann ihrerseits in den Konzentrations- und Zentralisationsstrudel gezogen werden. Die Plattformökonomie ist hierfür ein aktuelles Beispiel.
Von der Lohnarbeit in die Scheinselbständigkeit
Der Wunsch sich selbständig zu machen, rührt nicht daher, dass dem Menschen der Drang zum Unternehmertum angeboren sei. Er scheint einen Ausweg aus der Fremdbestimmung durch Vorgesetzte zu bieten. Der Wunsch, sein eigener Boss zu sein, hat ein emanzipatorisches Element. Daran knüpften die Bosse großer Unternehmen in den 1980er Jahren an, um der Arbeitermilitanz der vorangegangenen Jahrzehnte ein Ende zu bereiten. Beschleunigung des Arbeitsprozesses, immer kleinteiligere Arbeitsschritte und mehr Kontrolle hatten gerade in Großbetrieben bestehende Nischen autonomen Arbeitens immer weiter eingeschränkt.
Angesichts des hohen Beschäftigungsniveaus und entsprechend geringer Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes trauten sich mehr und mehr Beschäftigte, ihren Unmut über Arbeitshetze und Kontrolle kundzutun.
Ende der 1970er Jahre war die Protest- und Streikwelle der vorangegangenen Jahre schon wieder im Abflauen. Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit hatten Angst und damit die Bereitschaft zur Unterwerfung unter ungeliebte Arbeitsbedingungen in die Betriebe zurückgebracht. Aber viele dieser Betriebe waren immer noch in hohem Maße vertikal integriert, die darin geleistete Arbeit in entsprechend hohem Maße vergesellschaftet. Bei besserer Konjunkturlage hätte es leicht wieder zu Massenprotesten kommen können. Eine neue Unternehmenskultur, die Ausgliederung ganzer Produktionsabschnitte in formal eigenständige Betriebe, sollte diese Gefahr durch Rücknahme des Grades der Vergesellschaftung bannen.
Es entstanden dabei auch viele Einpersonenbetriebe. Fahrer übernahmen, meist auf Pump finanziert, ihre Lkw, Bauarbeiter wurden Subunternehmer, Abteilungsleiter Franchisenehmer. Das Versprechen: selbständige Arbeit, keine herumkommandierenden Bosse mehr. Die Realität: nahezu vollständige Abhängigkeit von einem Unternehmen, das den Neuunternehmern Aufträge gibt, Zeitvorgaben macht und ggf. auch in die Ausführung der Arbeiten eingreift. Bei Nichterfüllen der Aufträge drohen Vertragsstrafen und der Entzug von Anschlussaufträgen.
Es herrscht Unsicherheit wie bei befristeten Arbeitsverträgen, getoppt durch die Übernahme des berühmten unternehmerischen Risikos, das die großen, Aufträge vergebenden Firmen nach unten weiterreichen. Unter diesen Bedingungen von Unsicherheit, Angst und Konkurrenz ist das Organisieren von Solidarität deutlich schwieriger als in vertikal integrierten Großbetrieben.
Ganz unten und draußen
Das Problem der Scheinselbständigen besteht darin, dass sie in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung eine untergeordnete Stellung einnehmen. Die gesteht ihnen zwar formale Rechte zu, deren Wahrnehmung würde aber eine Organisierung erfordern, für die noch keine funktionierenden Formen gefunden sind. Ganz andere Probleme haben die Arbeitenden im informellen Sektor, sie sind von der gesellschaftlichen Arbeitsteilung weitgehend ausgeschlossen, können bei Bedarf aber als industrielle Reservearmee rekrutiert werden. Bis dahin leben sie, insbesondere in Ländern des Globalen Südens, im Schatten von Rechts- und Sozialstaat. Ganz auf sich gestellt, wahrhaft selbst-ständig.
Mögen rechtliche Standards auch noch so schwach ausgeprägt sein, bieten sie doch einen potenziellen Schutz, der den von kapitalistischen Produktionsverhältnissen Ausgeschlossenen verwehrt ist. Was kein Problem wäre, würden sie über eigene Subsistenzmittel verfügen. Von diesen wurden sie durch die kapitalistische Akkumulation aber abgeschnitten, sonst würden sie sich nicht im informellen Sektor durchschlagen.
Ingo Schmidt ist marxistischer Ökonom und lebt in Kanada und in Deutschland.
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