Die Wasserstoffstrategie Deutschland 2020 und ihr Update 2023
von Adrian Mell
Rekordtemperaturen zu Wasser und zu Land, Überschwemmungen, Waldbrände und Tornados werden zur neuen Normalität auf dem Planeten. Die Klimakrise eskaliert. Doch die Klima- und Energiekrise ist nicht die einzige Krise im finanzdominierten Akkumulationsregime Deutschlands.
Weitere systembedingte Krisendynamiken verdichten sich: das Überschreiten der planetaren Grenzen, das sich unter anderem in einem Verlust der Biodiversität und in Pandemien äußert; der tendenzielle Fall der Profitrate; die Überakkumulation aufgrund höherer Produktionssteigerungen im Vergleich zur Massennachfrage und ein Profit-Squeeze aufgrund einer schrumpfenden industriellen Reservearmee.
Die Bewegung hin zu einem grünen Kapitalismus lässt sich als ein Versuch deuten, die multiplen Krisen staatlich zu regulieren. Sie soll Wachstum auslösen und Profite generieren, ohne dass die Treibhausgasemissionen steigen. Zentral für das Projekt des grünen Kapitalismus ist die Energiewende der Industriestaaten hin zu erneuerbaren Energien. Doch die Energiewende führt auch zu sozialen und territorialen Landnahmen, zur Ausweitung und Vertiefung kapitalistischer Verhältnisse.
Landnahmen sind nach Klaus Dörre der Prozess der Expansion der kapitalistischen Produktionsweise nach außen und innen. Sie können Territorien betreffen, wenn etwa kollektiv verwaltetes Land privatisiert wird, oder das Soziale, etwa die Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme, wenn sie davor nichtprofitorientiert organisiert waren.
Egal ob Solar- oder Windkraftanlagen in Mexiko, Indien, Brasilien, Sambia, Marokko, Griechenland oder Deutschland: Überall lassen sich Landnahmen beobachten. Allmenden, die bislang vor allem als Weideland genutzt wurden, werden für die Errichtung der Anlagen enteignet und privatisiert. Staatliches Sozialeigentum in Form von Haushalts- und Steuermitteln wird dem Kapital zur Verfügung gestellt und die staatliche Verlustübernahme von Unternehmungen angeboten.
Hoffnungsträger Wasserstoff
Um Wasserstoff kostengünstig herzustellen, sind großindustrielle Solar- oder Windkraftanlagen nötig. Mit elektrischem Strom wird dann Wasser in Elektrolyseuren in Wasserstoff und Sauerstoff aufgespalten. Bisher gibt es allerdings noch keine Produktionsanlagen im industriellen Maßstab.
Mittlerweile haben die meisten Industriestaaten, die mehr als 75 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts auf sich vereinen, eine Wasserstoffstrategie formuliert. Auch Deutschland veröffentlichte im Jahr 2020 im Rahmen des Corona-Konjunkturprogramms eine Wasserstoffstrategie mit einem Volumen von insgesamt neun Milliarden Euro. Als Ziel formuliert das Papier ein ausreichendes Angebot an CO2-neutralem Wasserstoff. Er soll die Lücke beim Energiebedarf schließen, die nicht durch erneuerbaren Strom gedeckt werden kann.
Wasserstoff ist zugleich Energieträger und Prozessstoff für die Industrie, insbesondere für die Stahl- und Chemieindustrie sowie die Flugindustrie. Das Hauptargument für den Einsatz von Wasserstoff in diesen Bereichen ist die Unmöglichkeit, bestimmte Prozesse der Stahl- und Chemikalienherstellung sowie Langstreckenflüge zu elektrifizieren.Deutschland kann allerdings seinen Bedarf nicht selbst herstellen und muss also importieren. Deswegen sind der Markthochlauf im In- und Ausland miteinander verflochten.
Ende Juli veröffentlichte die Bundesregierung ein Update der Nationalen Wasserstoffstrategie, das einige Neuerungen beinhaltet. So wurde das Ausbauziel bis 2030 von 5 auf 10 GW verdoppelt. Außerdem wurde der sog. blaue Wasserstoff in die Strategie aufgenommen, der aus Erdgas und mit Hilfe der Abspaltung von Kohlenstoffdioxid hergestellt wird.
Bemerkenswert ist das Update aus zwei Gründen: Zum einem schädigt die Verwendung von blauem Wasserstoff das Klima, weil es beim Transport von Erdgas zu Leckagen kommt. Die Klimaschutzziele werden faktisch aufgeweicht. Zum anderem bieten die Regelungen Erdgasunternehmen die Möglichkeit, aus Erdgas Wasserstoff herzustellen, sodass sie ihre fossile Infrastruktur weiter nutzen können und diese nicht zu totem Kapital verkommt. Die FDP hat sich in diesem Punkt mit ihrem Beharren auf »Technologieneutralität« gegenüber den Grünen durchgesetzt, die ausschließlich die Nutzung von grünem Wasserstoff ermöglichen wollten.
Energiewende als Industrieförderung
Die Bundesregierung will Deutschland zum technologischen Vorreiter machen, die Unternehmen sollen Patente für diese »Zukunftstechnologie« erwerben. Bisher kommt jede zehnte Patentanmeldung im Bereich der Elektrolyse aus Deutschland. Die Regierung übernimmt Risiken bei der Finanzierung von Wasserstoffprojekten im Ausland und verfolgt eine strategische Umsetzung der Wasserstoffstrategie in Staaten wie Marokko, Chile oder Namibia.
Die Wasserstoffstrategie sieht eine massive Umverteilung von staatlichen Mitteln hin zu privaten, profitorientieren Akteuren vor. Die Forschung zur Produktion von Wasserstoff wird großzügig finanziert, die Ergebnisse der Privatwirtschaft kostenfrei zur Verfügung gestellt. Ein Beispiel dafür ist der »Power-to-X-Atlas«, den das Fraunhoferinstitut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik seit 2021 erstellt. Dieser analysiert weltweit die Standortbedingungen für die Produktion von grünem Wasserstoff und synthetischen Kraft- und Brennstoffen.
Vor allem aber werden Unternehmen Milliarden aus Steuern oder Krediten erhalten: mehr als drei Milliarden für die Konversion energieintensiver Branchen wie die Stahlproduktion, 900 Millionen Euro für den Kauf von Wasserstoff und, mit einem Umweg über die Verbraucher, 700 Millionen Euro für wasserstoffkompatible Heizungen.
Das Bundeswirtschaftsministerium unter Robert Habeck hat entschieden, das zukünftige Leitungsnetz privat statt staatlich betreiben zu lassen. Dies ist im Interesse der Erdgaspipelinebetreiber, da die Leitungen durch Umbauten für den Transport von zukünftigem Wasserstoff genutzt werden können und somit ihr Geschäftsmodell gerettet wird.
Die Umsetzung der Nationalen Wasserstoffstrategie ermöglicht neue Geschäftsmodelle und die Realisierung von Profiten. Dies kann die strukturellen ökonomischen Krisen dämpfen. Insofern lässt sich die Wasserstoffstrategie als einen der grünkapitalistischen Versuche begreifen, die multiplen Krisen des finanzdominierten Akkumulationsregimes staatlich zu regulieren. Dieses Muster war bereits 2009/2010 zu beobachten: Im Rahmen der Konjunkturprogramme wegen der Finanz- und Bankenkrise schnellten weltweit die öffentlichen Ausgaben für erneuerbare Energien nach oben.
Neue Widersprüche
Die Etablierung eines weltweiten Wasserstoffmarktes produziert, da kapitalgetrieben, neue Widersprüche, und kann die Akkumulationskrise nur temporär überwinden. Gerade im Hinblick auf die planetaren Grenzen ist die Verwendung von Süßwasser für die Wasserstoffherstellung zu nennen, da dort, wo aufgrund der Sonneneinstrahlung erneuerbare Energien günstig gewonnen werden können, Wasser oft knapp ist.
Kapitalistische Lösungen produzieren kapitalistische Probleme, auch wenn sie klimaneutral sind. Der staatliche Regulationsversuch ist unter dominanter Beteiligung von Wirtschaftsvertreter:innen entstanden und dient den Interessen der Erdgasnetzbetreiber, der Stahl- und Chemieindustrie sowie der Heizungshersteller.
Die Klimagerechtigkeitsbewegung darf dazu nicht schweigen. Vielmehr braucht es den proaktiven Austausch mit Arbeiter:innen in den Staaten mit hohen Potenzialen an erneuerbaren Energien, um zu verhindern, dass die Vertiefung des weltweiten Kapitalismus mit seinen diversen Ausbeutungsmechanismen als Klimaschutz legitimiert wird. Nötig wäre zudem eine revolutionäre Strategie, die darauf abzielt, die zukünftige Wasserstoffwirtschaft wie auch den Rest der kapitalistischen Ökonomie zu demokratisieren und die Produktionsmittel unter die Kontrolle der Arbeiter:innen zu stellen. Nur so ließen sich gleichzeitig die Klimakrise und die strukturellen Widersprüche des Kapitalismus auflösen.
Der Autor beschäftigt sich wissenschaftlich und beruflich mit der Energiewende unter kapitalistischen Vorzeichen.
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