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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 09/2023

Kein Recht auf Toilette
von Gerhard Klas

Seit Mai bin ich Besitzer eines 49-Euro-Tickets. Ende Juli stieg ich frühmorgens mit einem Freund in den Zug von Köln nach Mainz, die Mittelrheinbahn, sie befindet sich im Privatbesitz der TransDev-Gruppe.

Unser Ziel war Bacharach. Dort wird einmal im Jahr unter Boulespieler:innen aus Frankreich, Belgien, Luxemburg, den Niederlanden und Deutschland zwei Tage lang der Mittelrheinpokal ausgespielt. Eine sehr umweltfreundliche Sportart, die mit wenig Platz auskommt, keine versiegelten Flächen benötigt und in jeder Hinsicht integrativ ist: Junge und Alte, diverse Geschlechter und Migrationshintergründe. Sport und Spaß sind gleichermaßen wichtig. Mehrere hundert Teilnehmer:innen reisen an und abends kommt das halbe Dorf an die Open-Air-Theke. Ein Multikulti-Volksfest.
Die volle Strecke von Köln nach Mainz dauert drei Stunden, Bacharach liegt knapp eine Stunde vor Mainz. Irgendwann hatte ich das Bedürfnis, die Toilette aufzusuchen. Sie lag am anderen Ende des Waggons. Als ich dort ankam, traf ich auf eine Gruppe Fans des FC St.Pauli, die am ersten Spieltag der 2.Bundesliga nach Kaiserslautern unterwegs waren, um ihren Verein zu unterstützen. Als ich Richtung Toilette ging, winkten sie gleich ab, die Toilette sei abgeschlossen, offensichtlich defekt. Zum Glück ist es nicht mehr weit, dachte ich, und kehrte zurück an meinen Platz.
Irgendwann bemerkte mein Freund einen unangehmen Geruch, den schließlich auch ich wahrnahm. Die jungen St.-Pauli-Fans, von denen schon einige Bier getrunken hatten, konnten es nicht sein – sie waren zu weit weg. Unsere Fahrt sollte nur noch einige Minuten dauern, deshalb ertrugen wir die olfaktorische Zumutung. Als wir dann ausstiegen, bemerkten wir, sitzend auf einem Klappsitz neben der Schiebetür, einen sorgsam gekleideten älteren Mann. Unter ihm schwamm eine Pfütze. Er wagte nicht, uns anzusehen, sein Blick war auf den Boden gesenkt, seine ganze Körperhaltung Ausdruck tiefster Scham.
Bei uns löste dieser Anblick Wut aus – natürlich nicht auf den alten Mann, der wahrscheinlich nie wieder Bahn fahren wird. Sondern auf die Verkehrspolitik in diesem Land. Denn neben Unpünktlichkeit und teuren Tickets gibt es wohl keine bessere Methode, die Verkehrswende auch denen madig zu machen, die sie eigentlich unterstützen. Laut Fahrgastverband Pro Bahn sind unbenutzbare Toiletten in Regionalbahnen keine Seltenheit. Oft seien Toiletten gar nicht mal defekt oder verstopft, sondern einfach nur voll. Wenn die geschlossenen Vakuumsysteme nicht geleert werden, funktioniert die Toilette nicht mehr und wird abgeschlossen.
Während Betreibergesellschaften gerne Vandalismus für defekte Toiletten verantwortlich machen, weist der Fahrgastverband Pro Bahn auf den chronischen Personalmangel hin. Mit der derzeitigen Verkehrspolitik unter FDP-Minister Wissing, dem Freund der Auto- und Flugzeugindustrie, wird sich daran so bald auch nichts ändern.
2016 hatte das Landgericht Trier die Schadenersatzklage einer Frau abgewiesen, die bei defekter Toilette nach zwei Stunden Zugfahrt ihren Urin nicht mehr halten konnte. Der Hinweis des Gerichts, die Klägerin hätte doch unterwegs aussteigen können, ist völlig realitätsfern: Erstens gibt es Fahrgäste, die am Zielort einen Termin haben. Zweitens stoppen die Regionalzüge mehrheitlich an Geisterbahnhöfen, in denen es gar keine Bahnhofstoilette mehr gibt. Das mussten auch wir erfahren, als wir in Bacharach ausstiegen: Keine Toilette weit und breit. Unser Campingplatz war erfreulicherweise nur fünf Minuten entfernt.
Grundbedürfnisse von Fahrgastkunden der Bahn sind offensichtlich zweitrangig. Vielleicht würde es die Verkehrswende voranbringen, wenn Wissing und bornierte Richter einen Tag lang in einem Zug ohne funktionierende Toilette und mit abgesperrten Türen fahren müssten. Noch zielführender als diese Rachephantasie wäre, die Bahn wieder von einer renditeorientierten Aktiengesellschaft in ein Unternehmen der öffentlichen Daseinsvorsorge verwandeln, in der ihr Gebrauchswert für die Gesellschaft im Vordergrund steht.

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