Verhaftungen russischer Kriegsgegner
dokumentiert
Boris Kagarlitzki, vielleicht der bekannteste marxistische Denker im postsowjetischen Raum, wurde am 25.Juli wegen seiner Antikriegshaltung verhaftet. Er hatte im Oktober 2022 in einem Beitrag in den sozialen Medien erklärt, der Angriff auf die russische Krim-Brücke, für den die Ukraine verantwortlich gemacht wurde, sei »aus militärischer Sicht verständlich«. Sein Fall ist einer von Hunderten von polizeilichen Ermittlungen gegen russische Kriegsgegner. Seine Verhaftung hat eine hitzige Debatte darüber ausgelöst, ob Kagarlitzki angesichts früherer Äußerungen Solidarität verdient hat.
Der heute 64jährige Kagarlitzki, der in der späten Sowjetunion als linker Dissident und Untergrundmarxist begann, ist vielleicht die einzige Person aus jener Gemeinschaft, die nach dem Zusammenbruch der UdSSR in Russland und in der Region weithin Anerkennung fand und dabei ihre sozialistischen Überzeugungen beibehielt. Mehrere Generationen wuchsen mit Kagarlitzkis Büchern und Vorträgen auf, seine Einschätzungen der politischen Ereignisse in den postsowjetischen Ländern wurden zu einem Leitfaden für Beobachter im Westen. Er wurde zu einer Symbolfigur für die russische Linke.
Doch Kagarlitzkis Ansichten über den Krieg in der Ukraine waren nicht immer dieselben. Nach der ukrainischen Euromaidan-Revolution hat er die russische Annexion der Krim im Jahr 2014 und die prorussischen Separatistenbewegungen im Donbass begeistert unterstützt, da er in diesen Ereignissen progressive »antiimperialistische« Züge sah.
2015 formulierte er: »Noworossija [Neurussland] ist kein Projekt, sondern eine Bewegung, ein Traum, ein öffentliches Ziel.« Die von ihm betriebene Website Rabkor schloss sich dem an und argumentierte, dass »der Weg zur Beendigung des Bürgerkriegs in der Ukraine darin besteht, dass [Kiew] die Niederlage in seinem Krieg gegen den rebellischen Südosten anerkennt«, womit die sogenannten »Volksrepubliken« im Donbass gemeint waren.
Kagarlitzki wurde ein häufiger Gast im staatlichen Fernsehen. Sein neues Umfeld wurde von Personen dominiert, die mit der sog. »patriotischen Linken« Russlands in Verbindung gebracht wurden, die häufig konservative und imperialistische Positionen vertrat.
Kagarlitzkis politische Einschätzungen begannen sich 2017 erneut zu ändern, als er mit politischen Konservativen aneinander geriet, die die brutale Niederschlagung der Jugendproteste durch die russische Polizei befürworteten. Als die russische Armee am 24.Februar 2022 die Ukraine überfiel, bezog er sofort klar Stellung gegen die Aggression und zögerte nicht, Russland mit den schlimmsten Aggressoren der Vergangenheit zu vergleichen.
Sein YouTube-Kanal und seine Webseite Rabkor veröffentlicht Antikriegsinhalte, die sich eher an die russische Linke als an das liberale Publikum richten. Andere linke Kriegsgegner und sogar Liberale begannen, in Kagarlitzkis Livestreams aufzutreten. Seine Aktivitäten wurden für die russischen Behörden gefährlich, weil sie Sammelpunkte für ein breites Spektrum von Kriegsgegnern schufen. Im Jahr 2022 erklärten sie, er sei ein »ausländischer Agent«, und deuteten an, es sei für ihn an der Zeit, das Land zu verlassen. Er beschloss zu bleiben – trotz des Risikos, ins Gefängnis zu kommen, was nun geschehen ist.
Ohne eine Antikriegsbewegung in Russland selbst wird es sehr schwierig, vielleicht sogar unmöglich sein, den Krieg in der Ukraine zu beenden. Das ist der Grund, warum auch linke ukrainische Aktivisten wie Andryj Mowtschan sich mit Kagarlitzki solidarisch zeigen. Aus seinem Beitrag auf »opendemocracy.net« sind die vorstehenden Informationen entnommen.
Der Telegram-Account von Rabkor hat einen Solidaritätsaufruf veröffentlicht.
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