In Russland ist die Linke in der Kriegsfrage weitgehend gespalten
von Ewgeniy Kasakow
Leonid Raswosschajew hält sich mit seiner Meinung nicht zurück. Der ehemalige politische Gefangene, der viereinhalb Jahre für seine Teilnahme an den Protesten gegen die Wahlmanipulation 2011–2012 im Gefängnis verbrachte, wirbt unermüdlich für die Unterstützung der »Spezialoperation«. Raswosschajew, Mitglied der Linken Front (LF), beruft sich dabei auf Marx und Lenin, Russland führe einen antiimperialistischen und antikolonialen Krieg.
In seinem Telegramkanal wendet sich Raswosschajew auch an die ukrainischen Soldaten, die ruft er auf, nicht für die »Freiheiten der Perversen« zu kämpfen, die der Westen überall oktroyiere.
Homophobe Äußerungen dürften bei Raswosschajews Bündnispartnern auf wenig Widerspruch stoßen – denn Raswosschajew ist regelmäßig Gast beim »Klub der verärgerten Patrioten« (KRP) um den ehemaligen Geheimdienstoberst, Donbass-Kämpfer und überzeugten Monarchisten Igor Girkin-Strelkow. Dieser befindet sich allerdings seit dem 21.Juli in Untersuchungshaft. Ihm wird »Extremismus« vorgeworfen, die Details der Untersuchung wurden vom Inlandsgeheimdienst FSB zur Verschlusssache erklärt.
Für die Linke Front ist das eine äußerst unangenehme Entwicklung. Denn seit längerem bemüht sich ihr Anführer Sergej Udalzow, der ebenfalls viereinhalb Jahre in Putins Gefängnis verbrachte, um ein Bündnis zwischen der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF), anderen »linkspatriotischen« Kräften und dem KRP für die kommenden Wahlen. Doch die Hardlinerkritik derer, die eine Intensivierung der Kriegsbemühungen fordern, scheint genauso kriminalisiert zu werden wie die Kritik der liberal-prowestlichen oder linken Kriegsgegner:innen.
Die 2008 gegründete Linke Front war früher für ihre radikale Kritik an der KPRF bekannt. Jetzt wird sie zunehmend zu einem Juniorpartner der Partei, die formell zwar als die größte Oppositionskraft gilt, aber immer wieder ihre Loyalität zum Kreml unter Beweis stellt. Zwar darf Udalzow selbst aufgrund seiner Vorstrafe nicht zu Wahlen kandidieren, aber seine Ehefrau Anastasia Udalzowa sitzt als Nachrückerin für die KPRF in der Duma. Die ehemalige Aktivistin der inzwischen verbotenen Nationalbolschewistischen Partei (NBP), eine wichtige Figur in der Moskauer Undergroundmusikszene, stimmte zusammen mit ihrer Fraktion für alle Gesetze zur Verschärfung der Zensur und der Repressionen.
Durcheinandergewirbelt
Die Haltung der KPRF zur Repression gegen die Kriegsgegner sorgt zunehmend für Unmut in linken Kreisen. Während die »verärgerten Patrioten« sich offiziell mit ihrem ideologischen Gegner, dem linken Soziologen Boris Kagarlitzki, der wegen »Rechtfertigung des Terrorismus« im Gefängnis sitzt [siehe Seite 17] solidarisiert haben, bewahrt die Parteiführung um Gennadi Sjuganow eisiges Schweigen.
Dabei arbeitet die KPRF punktuell mit linken Organisationen zusammen, die den Krieg ablehnen, wie die trotzkistische Revolutionäre Arbeiterpartei (RRP). Während Jewgeni Prigoshins »Privates Militär- und Sicherheitsunternehmen ›Wagner‹« am 24.Juni auf Moskau zumarschierte, sprach sich Gennadi Sjuganow für die »Konsolidierung um den Präsidenten« auf, die RRP aber rief zur Gründung von Arbeitermilizen zur »Selbstverteidigung« auf und prangerte sowohl Putin als auch Prigoshin als bürgerliche Kräfte an.
Prigoshins »Marsch der Gerechtigkeit« hat die Opposition kalt erwischt. Während einige Liberale aus dem Exil heraus für die Unterstützung von »Wagner«-Kämpfern plädierten und Prigoshin als kleineres Übel bezeichneten, befürchteten andere liberale und linke Kriegsgegner eher eine Entfesselung des Terrors durch die frustrierten Kriegsrückkehrer und den Übergang zur offen faschistischen Regierungsform.
Der Putsch
Am Tag von Prigoshins Meuterei, respektive Putsch, streamte die von Boris Kagarlitzki gegründete Internetplattform Rabkor ein Livegespräch zwischen linken Aktivisten, die zur möglichst schnellen Selbstorganisation angesichts der drohenden Gefahr mahnten. Die Leichtigkeit, mit der Prigoshins Truppe sich auf 200 Kilometer der Hauptstadt nähern konnte, die offensichtliche Ratlosigkeit der staatlichen Stellen demonstriere, so die einstimmige Meinung der linksoppositionellen Beobachter, wie fragil in Wirklichkeit die viel gepriesene »Stabilität« von Putins System sei. Was allerdings auch bedeute, dass rechte Hardliner oder liberal-prowestliche Kräfte sich diese Schwäche bei der nächsten Erschütterung schnell zunutze machen könnten.
Den Linken mangelt es immer noch an Agitation, Strukturen und Vernetzung, wie die Teilnehmer des Rabkor-Streams konstatierten. Kagarlitzki begegnete den Spekulationen, was eine starke Kaderpartei in so einer Situation hätte machen können, mit dem berechtigten Einwand, man könne es nicht aus dem Boden stampfen, wenn »Wagner«-Kolonnen nur noch Stunden von Moskau entfernt seien.
Dass Prigoshin bei seinen Verlautbarungen von »Gerechtigkeit« (primär für sich und seine Kämpfer) sprach und sich über die Eliten im Hinterland ausließ; dass er sich noch vor kurzem um die Kontrolle der »linkspatriotischen« Duma-Partei »Gerechtes Russland – Patrioten – Für die Wahrheit« bemüht hatte, wird in der linken Opposition vor allem als Anzeichen von faschistischer Demagogie wahrgenommen. Allerdings zeigten die Ereignisse, dass Prigoshins Ruf als »Mann fürs Grobe« die Bevölkerung zwar nicht abschreckt, er aber auch über keine politische Basis jenseits der eigenen Truppen verfügt, die bisher als outgesourcter Teil des staatlichen Gewaltapparats fungierten.
Die Spaltungslinie
Weiterhin besteht in der linken Antikriegsopposition die Spaltung zwischen denjenigen, die für die Unterstützung der Ukraine eintreten, und denjenigen, die sich gegen beide Kriegsparteien wenden. Zur ersten Fraktion gehören die trotzkistisch geprägte Russische Sozialistische Bewegung (RSD), die trotzkistischen Gruppen Sozialistische Alternative (Sektion der ISA) und Sozialistische Tendenz (Sektion der RCIT) sowie das Netzwerk Feministischer Widerstand gegen den Krieg (FAS) und die militante Kampforganisation der Anarcho-Kommunisten (BOAK).
Die zweite Fraktion ist vertreten durch die aus Lesezirkeln entstandene Union der Marxisten, der trotzkistischen Organisation der Kommunisten-Internationalisten (OKI, Sektion der IMT); die Konföderation der revolutionären Anarchosyndikalisten (KRAS) sowie durch eine Reihe von linksstalinistischen Gruppen wie »Rot Front« und den Jugendverband RKSM(b) um Alexander Batow oder die Nowosibirsker Plattform Krasny Poworot (Rote Wende).
Auch gemäßigtere Linke wie die Rabkor-Plattform oder die durchaus vorhandenen Kriegsgegner in der KPRF haben keine Illusionen bezüglich der ukrainischen Seite. Teilweise greifen linke Stalinisten auch Stichworte der offiziellen Propaganda gegen die Ukraine auf, doch die Haltung »gegen alle bürgerliche Regierungen« nimmt allmählich Konturen an. Es gibt weiterhin Versuche, mit Kriegsgegnern in der Ukraine und dem Westen Kontakt aufzunehmen. Die Union der Marxisten und die OKI bauen weiterhin eigene Lesekreise und Ortsgruppen in verschiedenen Regionen auf. Weiterhin sind linke Kriegsgegner im Gewerkschaftsverband Konföderation der Arbeit Russlands (KTR) aktiv.
Im Exil
Häufig wird Kriegskritik eher verklausuliert formuliert, ohne plakative Verstöße gegen die Gesetze, die eine euphemistische Wortwahl wie »militärische Spezialoperation« aufzwingen. So spricht der Wirtschaftswissenschaftler Oleg Komolow, ehemaliges KPRF-Mitglied, heute Aktivist von »Rot Front«, ein Anhänger der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus, auf seinem You-Tube-Kanal Prostyje Zifry (Einfache Zahlen) über die ökonomischen Folgen der Sanktionen und die Interessen des russischen Kapitals in der Welt. Sein Fazit ist eindeutig: Russlands Außenpolitik im postsowjetischen Raum und in der Dritten Welt wird durch kapitalistische Interessen bestimmt und kann nicht als Fortsetzung des sowjetischen Antiimperialismus mit seinen Entwicklungsidealen gelten.
Der Historiker Alexander Schtefanow, ein gemäßigter Sozialdemokrat und Pazifist, hat nicht nur einen Dokumentarfilm über das Leben im »befreiten« Donbass gedreht, in dem er die Bewohner selber über ihre Erlebnisse zu Wort kommen lässt, sondern analysiert regelmäßig die historischen Exkurse der russischen und ukrainischen Propaganda.
Aufgrund der aktuellen Repressionslage wächst die Zahl linker Aktivisten im Exil. Aktuell sind es vor allem rechtsliberale Akteure, die im Exil im Namen der russischen Opposition sprechen. Selbst im liberalen Lager wird kritisiert, dass die »sprechenden Köpfe« des Exils, die über keine Organisationen in Russland verfügen, sich in den Vordergrund drängen und dabei zum Beispiel die Anhänger von Alexej Nawalny, die zahlenmäßig stärker seien, ausgrenzen. Tatsächlich sind Figuren wie Garri Kasparow oder Michail Chodorkowski lange vor Kriegsbeginn exiliert und interessieren sich wenig für die Nöte derjenigen, die Russland kriegsbedingt verlassen haben.
In letzter Zeit werden Schritte zur Vernetzung der linken Exilanten und Migranten unternommen. Linke aus Kasachstan, Kirgisien, Armenien kämpfen gegen die Auslieferung russischer Aktivisten nach Russland. Einige Organisationen wie FAS, RSD oder die Union der Marxisten haben auch Ortsgruppen im Westeuropa gegründet. Erst vor kurzem sprach Michail Lobanow, der als parteiloser Linkssozialist bei den letzten Dumawahlen für die KPRF kandidierte und nur mithilfe offensichtlicher Wahlfälschungen am Sieg gehindert wurde, von der Perspektive der Gründung einer neuen »linken radikal-demokratischen Partei«. Doch die Teilnahme einer im Exil gegründeten Organisation an den politischen Prozessen in Russland wird sich wohl schwer gestalten.
Der Autor wurde 2017 an der Universität Bremen in Philosophie und Geschichte promoviert. Von ihm erschien im Juli 2023 im Unrast-Verlag das Buch Spezialoperation und Frieden: Die russische Linke gegen den Krieg.
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