Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 09/2023

Hundert Milliarden reichen nicht
von Angela Klein

Unsere Freiheit wird jetzt am Dnjepr verteidigt, wird uns gesagt. Dafür sollen wir Opfer bringen – d.h. alle sozialpolitischen Vorhaben der Ampelkoalition werden kassiert, Investitionen in den Klimaschutz, die vorwiegend kosten, stark gekürzt. Es ist nicht erinnerlich, dass diese Alternative in Deutschland in den letzten 60 Jahren so hart gegeneinander gestanden hätte wie derzeit.

Der NATO-Gipfel in Vilnius am 11. und 12.Juli 2023 hat dafür die Melodie vorgespielt. Seit langem fordern vor allem US-Regierungen, »mindestens 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für die Verteidigung auszugeben«. Bislang galt die Formulierung, die Mitgliedstaaten der NATO sollten sich bis 2024 »in Richtung« von Militärausgaben in Höhe von 2 Prozent des BIP bewegen. 19 von 31 Mitgliedstaaten lagen allerdings deutlich darunter. Damit soll jetzt Schluss sein. In Vilnius wurde das 2-Prozent-Ziel als »verpflichtend« festgeschrieben.
Die Investitionssumme ist »kein Richtwert mehr, der eine Obergrenze beschreibt. Stattdessen sind die 2 Prozent künftig eine Untergrenze – »ein Minimum, zu dem sich die NATO-Länder dauerhaft verpflichten«, schrieb die Süddeutsche Zeitung am 11.Juli. 2 Prozent klingt harmlos. In Euro und Cent ausgedrückt heißt das aber:
– Die Bundeswehr erhält im kommenden Jahr 1,7 Mrd. Euro mehr; der offizielle Verteidigungshaushalt (ohne die diversen Schattenhaushalte und ohne das Sondervermögen von 100 Mrd.) steigt damit auf 51,8 Mrd. Euro.
– 2024 kommen aus dem Sondervermögen 19,2 Mrd. hinzu – macht 71 Mrd.
– Obendrauf kommen dann noch die Ausgaben, die von den sog. NATO-Kriterien erfasst werden (u.a. die Kosten für die Waffenlieferungen an die Ukraine) – sie werden auf 13 Mrd. geschätzt.
In der Summe macht das für 2024 84 Mrd. Euro – bei einem Gesamthaushalt von 445,7 Mrd. sind das knapp 20 Prozent des Haushalts und rund 10 Mrd. mehr als die Haushalte für Bildung (20,3 Mrd.), Gesundheit (16,8), Entwicklung (11,5), Klima (10,9), Wohnen (6,9), Auswärtiges (6,1) und Umwelt (2,4) zusammengenommen.

60 Prozent oder 30 Mrd. Euro mehr für Rüstung und Krieg
In den darauffolgenden Jahren ist nochmal ein Plus von 7,3 Mrd. Euro für den Verteidigungshaushalt vorgesehen. Da das Sondervermögen aber spätestens 2026 verbraten sein muss, ergibt sich für 2027 ein Militärhaushalt von 57,4 Mrd. Euro plus weitere Ausgaben nach NATO-Kriterien – insgesamt also 65–70 Mrd. Euro. Der IWF schätzt aber, dass es rund 95 Mrd. sein müssten, soll das 2-Prozent-Ziel eingehalten werden. Das heißt: Hier klafft eine riesige Lücke. »Sehenden Auges marschieren wir hier auf eine Situation zu, in der entweder vollmundig gemachte Zusagen wieder einkassiert werden, oder von einem Jahr auf das andere eine Erhöhung der offiziellen Militärausgaben um 25 bis 30 Mrd. Euro erfolgen müsste«, schreibt Jürgen Wagner auf der Webseite der Informationsstelle Militarisierung in Tübingen (IMI), auf dessen Ausführungen sich der vorliegende Artikel stützt.
»Interessierten Kreisen ist das schon lange klar«, schreibt Wagner weiter, »und sie breiten jetzt schon den Stimmungsteppich für die anstehenden Debatten aus.« So forderte etwa das Institut für deutsche Wirtschaft in Kiel im August letzten Jahres eine »Verstetigung« der Zeitenwende nach 2026 mittels dauerhafter Militärausgaben von mindestens 2 Prozent des BIP durch ein »gut 60 Prozent vergrößertes Verteidigungsbudget«.
»Aufgrund der sogenannten Schuldenbremse müsste eine Verstetigung der Zeitenwende aber auf Kosten nahezu aller anderen Ministerien gehen – vor allem eine Kürzung der Sozialausgaben wäre nahezu unausweichlich. Mit beeindruckender Deutlichkeit offenbart ein Beitrag in Europäische Sicherheit & Technik, Deutschlands führendem militär- und rüstungsnahen Magazin, die Konsequenzen, die sich hieraus ergeben: Es bedürfe einer ›grundlegenden gesellschaftlichen Debatte über die nationalen Prioritäten‹, gibt dort Redakteur Ole Henckel zum Besten. Am Ende stehe man aber vor einer simplen Wahl: ›entweder die Kürzung sozialer Leistungen oder das Scheitern der Zeitenwende für die Bundeswehr.‹«
Weiter heißt es in Europäische Sicherheit & Technik: »30 Milliarden Euro mehr bräuchte es derzeit im Verteidigungshaushalt, damit dieser eigenständig das 2-Prozent-Ziel erfüllt. Der einzige Posten im Bundeshaushalt, der die Masse dieses zusätzlichen Bedarfes decken könnte, ist der des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Die Debatte wird sich also um die Streichung von Sozialausgaben für Militär und Rüstung drehen … Der entscheidende Punkt und die damit verbundene Debatte wird allerdings erreicht werden, wenn das Sondervermögen verausgabt ist und man im Bundeshaushalt Prioritäten setzten muss. Voraussichtlich wird dieser Zeitpunkt auch mit der kommenden Bundestagswahl zusammenfallen. Rüstung oder Soziales. Dann wird sich zeigen, wie nachhaltig die viel zitierte Zeitenwende ist.«
»Man mag sich … nicht vorstellen«, so Wagner, »welche Kürzungsorgien ein Land wie Spanien … der Bevölkerung aufnötigen müssen wird.« Aktuell gibt es 19 Mrd. Euro für sein Militär aus, das entspricht 1,26 Prozent seines BIP. Um die 2 Prozent zu erreichen, braucht es 11 Mrd. mehr. Dabei leidet das Land Sommer für Sommer mehr unter unerträglichen Hitzewellen; das Geld würde dringend an anderer Stelle benötigt.

Wofür das Ganze?
Und was wird mit dem ganzen Geld gemacht?
Als erstes heißt es jetzt wieder: »Germans to the front«. Denn die NATO will im Osten ihre Vorwärtspräsenz erhöhen. Bislang ist sie an der Ostfront mit je einem Bataillon (etwa 1500 Soldaten) in den drei baltischen Staaten und Polen präsent. Nun sollen vier weitere Länder dazu kommen: die Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien; außerdem soll die Truppengröße auf Brigadestärke ausgebaut werden (etwa 3000–5000 Soldaten). Deutschland hat noch vor dem Gipfel in Vilnius erklärt, das von ihm geführte NATO-Bataillon in Litauen entsprechend aufstocken zu wollen. 4000 Soldaten der Bundeswehr sollen dort stationiert werden – plus Familien, Kindergärten, Schulen, Supermärkte usw.
Hinzu kommt eine geplante, massive Verstärkung der Fähigkeit, innerhalb kürzester Zeit großer Truppenverbände verlegen zu können: 100000 Soldaten will die NATO innerhalb von zehn Tagen, weitere 200000 bis zum Tag 30 und zusätzliche 500000 bis Tag 180 mobilisieren können. Deutschland hat für den ersten Bereitschaftsgrad (10 Tage) bis 2025 eine voll ausgestattete Division (rund 15000–20000 Soldaten) zugesagt; 2027 soll ein zweiter und 2030 ein dritter dieser Großverbände folgen.
Diese Planungen sind Teil eines neuen NATO-Verteidigungsplans, der laut Die Welt vom 13.7. mehrere tausend Seiten umfasst und über die gesamte Ostflanke bis ins kleinste Detail Soldaten und Gerät geografisch zuordnet: »Die insgesamt mehr als 4000 Seiten starken Verteidigungspläne beschreiben detailliert, wie kritische Orte im Bündnisgebiet durch Abschreckung geschützt und im Ernstfall verteidigt werden sollten. Als mögliche Orte für einen Angriff gelten das Grenzgebiet zwischen Norwegen, Finnland und Russland, das Baltikum, aber auch die Schwarzmeerküste mit den NATO-Mitgliedern Rumänien und Bulgarien. In den Plänen wird auch definiert, welche militärischen Fähigkeiten notwendig sind. Neben Land-, Luft-, und Seestreitkräften sind auch Cyber- und Weltraumfähigkeiten eingeschlossen.«

Quelle: https://www.imi-online.de/.

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