Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 09/2023

Wie die Polizei gegen unerwünschte Bürger vorgeht
von Albrecht Kieser

»Embedded Journalism«: Während mehrere Journalisten eine Polizeirazzia am Wiener Platz im rechtsrheinischen Stadtteil Köln-Mülheim als Medienereignis wohlwollend begleiten, hat sich unser Autor ­Albrecht Kieser an die Seite der Betroffenen gestellt, »embedded« bei denen, die niemand haben will: Obdachlose, Drogenabhängige und solche, die die Polizei dafür hält.

Eine Hundertschaft Polizeibeamter war im Einsatz – am 17.August 2023, am frühen Abend um 18 Uhr. Nach einer Stunde sind die Beamten »durch«.
Die Razzia war durch die Presseabteilung der Polizei bekannt gemacht worden. Pressevertreter waren eingeladen zu diesem »Medientermin«. »Bekämpfung der Straßenkriminalität« sei Ziel der »sichtbaren Kontrollen«. Wir »möchten einerseits die Fallzahlen der Straßenkriminalität senken und andererseits das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung wieder stärken«. Anlass sei »ein stetiger Zuwachs im Bereich der Starktrinker- und Obdachlosenszene«.
So weit die Lagebeurteilung. Wie man wohl sagt.
Die Beamten hetzten nicht durch die Gegend, rannten nicht hinter Flüchtenden her, alles lief außerordentlich gemessen ab. Sie führten Personenkontrollen durch, jeweils zu viert. Das ist ein angemessenes Vorgehen, die Übermacht beantwortet sofort die mögliche Frage eines Kontrollierten nach Gegenwehr oder Flucht: Nichts von beiden macht Sinn. Die Übermacht macht klein, schüchtert ein, die Polizei würde sagen: deeskaliert.

Ziel: Verdrängung
Der Wiener Platz ist riesig. Eine riesige Bausünde ist er auch.
Er besteht aus einer unter dem Straßenniveau liegenden großen leeren Fläche, an deren einem Ende ein »Biergarten« und zwei öffentliche Klos auf Besucher:innen warten, zahlreichen Zu- und Abgängen in die umliegenden Straßen und in die U-Bahn, wo das Ganze unübersichtlich und häufig duster, jedenfalls noch dreckiger und ungepflegter wird. Beton, Pflastersteine, keine Bänke auf dem Platz, dafür einige Sitzmöglichkeiten an den Rändern. Dort sitzen Menschen in Gruppen und erzählen sich was, manche sind erkennbar obdachlos, wenige alkoholisiert, einige Drogenabhängige und/oder Dealer haben ihre speziellen Ecken.
Köln-Mülheim ist ein migrantisch geprägter Stadtteil, viele Menschen, die in kleinen Wohnungen leben, unter ihnen viele Schwarze, nutzen den Platz zu einem Plausch. Er liegt im Zentrum des Stadtteils, er ist nicht der Görlitzer Park auf Kölsch, er ist nur eine hässliche, überdimensionierte, freie Fläche und ein Verkehrsknotenpunkt für Fußgänger.
Der Gruppenleiter, ein Polizeihauptkommissar mit vier silbernen Sternen auf den Schulterstücken, versicherte mir zum Einsatzzweck, »die Szene« solle »verdrängt« werden.
Welche »Szene«? – »Menschen, die eine offensichtliche Suchterkrankung mit sich tragen«. Ich war nicht in der Lage nachzufragen, woran der Polizeibeamte das erkennen wollte. Hier begann mein Dilemma, ohne dass ich mir schon darüber klar gewesen wäre. Das Dilemma, einem Einsatz beizuwohnen, in dem jede Aktion der Uniformierten als völlig angemessen und durchdacht erschien. Allein, weil sie ruhig ablief, routiniert, ohne Widerspruch von irgendeiner Seite. Ich fiel vielleicht nicht so darauf herein wie meine »embedded« Kollegen, die mitzogen mit den Beamten und keinem der Kontrollierten auch nur eine Frage stellten oder Gelegenheit zu einem Kommentar gegeben hätten. Ich ging meine eigenen Wege.
Wohin verdrängen? – Das sei nicht Sache der Polizei. Natürlich wisse er, dass in der Verdrängung nicht die Lösung der Probleme bestehe, Armut, Obdachlosigkeit, Drogenabhängigkeit könne so nicht beseitigt werden. Aber das Interesse der Bürger nach Sicherheit müsse auch bedacht sein.
Nun denn. Folgen wir weiter den Vierertrupps der Beamten bei der Produktion von Sicherheit.

Begründung: Sicherheitsbedürfnis
»Verdachtsunabhängige Kontrollen« kenne ich als Ausweiskontrollen. Aber das war es hier nicht.
Es war etwas ganz anderes. Und es kam so grundüblich, integer, angemessen und durchdacht daher, dass ich Stunden gebraucht habe, um die ganze Perfidität dieser Art von Kontrollen zu begreifen: jede der kontrollierten Personen wurde nämlich einer Leibesvisitation unterzogen. In aller Öffentlichkeit. Das schloss das Abtasten von Achselhöhlen, Gesäß und Beinen ein, bis hoch in den Schritt, die Schuhe mussten ausgezogen werden, manche hatten das T-Shirt zu heben, manche die Hosen herunter zu lassen.
Diese Leibesvisitationen waren durch keinerlei Auffälligkeiten der Kontrollierten provoziert, keiner versuchte, irgendetwas beiseite zu schaffen, in die Büsche (die es dort nicht gibt) zu werfen, etwas herunterzuschlucken oder irgendwo am Körper zu verbergen.
Es gehörte offensichtlich zum Kernkonzept dieser Razzia, Leibesvisitationen vorzunehmen, es war so geplant, so wurde es durchexerziert. Ist das rechtlich gedeckt? Kann die Polizei mittlerweile ohne Begründung jede und jeden befingern und betasten, nur weil er zum falschen Zeitpunkt an einem solchen Ort sitzt? Diese Prozedur ist ja durchaus entwürdigend, noch dazu in der Öffentlichkeit. Sie signalisiert den Zuschauenden: hier hat jemand etwas zu verbergen, hier ist Gefahr im Verzug, hier muss durchgegriffen werden. Und sie signalisiert den Betroffenen: wir packen dich einfach an, egal, ob du was gemacht hast. Wir greifen dir hin, wohin wir wollen, wann wir wollen, wie wir wollen. Du bist schutzlos.
Ich hab es nicht begriffen, als es vor meinen Augen ablief. Ich musste mich nur hin und wieder wegdrehen, weil ich das behandschuhte Hinuntergleiten und -packen und -kneten und -greifen an den Menschen ekelig fand, abstoßend, übergriffig und schamlos. Selbst als ich mich nach Abzug der Beamten zu einer Gruppe von vier schwarzen Männern setzte und mich entschuldigte für diese rassistischen Attacken – denn so empfand ich sie –, war mir noch immer nicht bewusst, was hier ablief: ein ganz bewusster Akt der Erniedrigung, ein ganz gezieltes Signal an alle Kontrollierten: haut ab, wenn ihr das jetzt nicht vier Wochen lang täglich erleben wollt. Denn jeden Tag und das vier Wochen lang sollen diese Kontrollen durchgeführt werden.
An wem eigentlich? An wem wurden diese Kontrollen durchgeführt? Nach meiner Wahrnehmung nur an Personen, die möglicherweise der Obdachlosen- oder der Drogenszene zugehören könnten, weil sie vielleicht etwas schräger waren als normal. Und an Schwarzen.
Auch das kam grundüblich, völlig integer, durchdacht und angemessen daher. Denn die Beamten verhielten sich, wie schon gesagt, ruhig, sprachen in normaler Lautstärke mit den Kontrollierten, formulierten ihre Aufforderungen deutlich und gar nicht einmal aggressiv oder auch nur unfreundlich. So schien es. Was sie taten und wie sie sprachen, geschah allerdings aus der Position der Macht, d.h. von oben herab, und damit prinzipiell verächtlich.
Das wurde mir besonders an einem kleinen Vorfall deutlich: ein Beamter entleerte einem Schwarzen die Hosentaschen, er »entdeckte« dabei zwei oder drei Geldscheine, 10er, 20er. Der Beamte fragte: »Woher haben Sie das Geld?« Der Angesprochene antwortete: »Ich arbeite.« Der Beamte drängte: »Danach habe ich nicht gefragt.« Die unausgesprochene Unterstellung des Beamten, das Geld könne eigentlich nur geklaut sein, gellte mir in den Ohren. Nach dem Motto, Schwarze haben kein Geld, es sei denn gestohlenes. Genauso hat sich der Betroffene tatsächlich gefühlt. Im Gespräch mit mir regte er sich über diese Unterstellung sehr auf. Sie sei zutiefst respektlos. Aber so sei es nun mal hier.

Programm: Entwürdigung
Die Menschen, die diesen Leibesvisitationen unterworfen wurden, blieben bewundernswert ruhig und ließen sich nicht zu irgendeiner Form von Gegenwehr hinreißen, nicht einmal, wenn ihnen in die Unterhose gegriffen wurde (nur ein wenig, nur am in den Bund, die Beamten wussten die Grenzen zu wahren).
Niemand stieß die Hände eines Uniformierten weg. Niemand fragte, warum. Niemand fragte nach der rechtlichen Begründung. Niemand wurde aufgeklärt, dass er sich weigern könne.
Jeder Zugriff verlief auf eine gespenstische Weise ruhig. Grundüblich. Integer. Angemessen. Nichts davon stimmte. Durchdacht war die Razzia, ja. Aber sie war schamlos, entwürdigend und abstoßend. Sie stellte die betroffenen Menschen ins Abseits, sie wählte Formen der Kontrolle und des Zurschaustellens, die die Betroffenen zu Verbrechern abstempelte, die Razzia war eine bewusste Verletzung von Respekt und Anstand. Sie war eine Attacke auf Unliebsame. Sie war ein kleiner sozialer Krieg. Sie wollte Menschen, die nicht passen (wem auch immer, warum auch immer), hässlich machen und verletzen. Sie war bösartig hinter einem freundlichen Gesicht.

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