Das neue Heft von Widerspruch zum Ukrainekrieg
von Angela Klein
Widerspruch 80. Beiträge zu sozialistischer Politik. »Ukraine, Krieg, linke Positionen«. Heft 1/2023, Zürich. 18 Euro
Auch diese deutschsprachige Theoriezeitschrift versucht einen differenzierten Zugang zum Krieg in der Ukraine. Anders als die in den vorherigen SoZ-Ausgaben besprochenen Zeitschriften Z – Zeitschrift marxistische Erneuerung und Das Argument begibt sich Widerspruch jedoch in die politische Kontroverse.
Der Widerspruch ist diesmal in die Redaktion und in deren Beirat selbst vorgedrungen. Ein Artikel, der jede Mitverantwortung der NATO für den Krieg ablehnt, war abgelehnt worden mit der Folge, dass zwei weitere Autor:innen ihre Beiträge zurückzogen. Die im Verlauf des Konflikts gea?ußerte Kritik ließ die Redaktion den Entscheid jedoch u?berdenken und korrigieren, unter anderem, weil Widerspruch eine Plattform fu?r ein breites Meinungsspektrum in der Linken sein will. Das kommt auch im Antexter auf der Titelseite zum Ausdruck: »Hilfe für die ukrainische Bevölkerung tut not und Russlands Krieg ist falsch. Doch sind deswegen die Waffen des Westens richtig?«
Wohin die Redaktion mehrheitlich tendiert, wird eh deutlich. Es ist auch gut, dass sie den Schlagabtausch vermieden und dafür Sachartikel zu einer ganzen Bandbreite von Fragen im Zusammenhang mit dem Krieg gebracht hat: Artikel zur Lage der Linken in der Ukraine, in Russland; zur Lage der Menschen in der Ostukraine, insbesondere der Frauen.
Natürlich werden auch die »großen« Fragen behandelt – die tieferliegenden Ursachen für den Krieg und seine geopolitische Einordnung in den Kampf um die Welthegemonie sowie seine Folgen für die Länder des globalen Südens.
Klassenanalyse
Herausragend ist der Beitrag des ukrainischen Soziologen Wolodymyr Ischtschenko. Er gibt sich bei der Frage, warum um alles in der Welt Russland diesen Krieg losgetreten hat, nicht damit zufrieden, es zum neuen Reich des Bösen und Putin zum neuen Hitler zu erklären, auch lehnt er es ab, etwas so Handfestes wie den Krieg aus der Ideologie abzuleiten. Er sucht vielmehr, gut materialistisch, nach dem »rationalen Interesse der herrschenden Klasse in Russland« und erkennt dieses in der besonderen Beziehung der herrschenden Klasse zum Staat. Diese Beziehung verschafft den Oligarchen einen Konkurrenzvorteil, den sie weder aus der Produktivität noch aus billigen Löhnen ableiten könnten. Es ist eben jene Beziehung, die das westliche Kapital zerstören will, um an den Rohstoffreichtum des Landes zu kommen. Es geht darum, »ein eigenständiges Zentrum im postsowjetischen Raum« zu eliminieren.
Er attestiert damit der russischen Kriegführung einen gewissen defensiven Charakter – im Verhältnis zum westlichen Kapital. Im Verhältnis zur Ukraine gilt natürlich, was Tomas Konicz schreibt: »Das ökonomisch immer weiter hinter den Westen zurückfallende Russland ist bemüht, seinen Status als Großmacht durch blanke militärische Gewaltanwendung aufrechtzuerhalten…«
Dieselbe »Zerstörung des spezifisch postsowjetischen Raums« sieht Ischtschenko auch in der Ukraine, mit dem Unterschied, dass die herrschende Klasse, die sich nach dem Fall der Mauer in der Ukraine herausgebildet hat, es im Gegensatz zu den russischen Oligarchen nicht geschafft hat, »der ukrainischen Staatsform ein nationales Entwicklungsprojekt zu verleihen«. Spätestens seit der »orange Revolution« von 2004 hin- und hergezogen zwischen der Orientierung nach Westen und nach Osten, ist es dieser Klasse nicht gelungen, ein bonapartistisches Regime nach Moskauer Vorbild zu stabilisieren.
Sollte die Ukraine der EU beitreten, würde »die herrschende Klasse beseitigt«, »die die ukrainische Wirtschaft bislang in der Politik repräsentiert hat« – zugunsten des transnationalen Kapitals.
Was tun?
Vor diesem Hintergrund wäre es nun spannend gewesen, die Frage zu diskutieren, welche Rolle eine marxistische Linke spielen könnte, die vom weltweiten Kampf zwischen Lohnarbeit und Kapital ausgeht.
Einen Hinweis gibt Konicz: »Dem Zwang, sich unreflektiert einer der imperialistischen Kriegsparteien anzuschließen, müsste eine offensiv antikapitalistische Solidaritäts- und Friedenspolitik entgegengestellt werden … Die Überwindung des Kapitalverhältnisses ist Richtschnur aller linken Praxisbemühungen. Dies müsste auch für die Antikriegsbewegung gelten, um eine Instrumentalisierung durch den Kreml zu verhindern.«
Leider stellen die Antworten auf die Frage »Wie kann der Krieg beendet werden?« nicht zufrieden: Die einen (die »Panzerfreunde«, wie die Befürworter von Waffenlieferungen manchmal etwas despektierlich genannt werden) sagen: Der Krieg ist zu Ende, wenn die Ukraine gewonnen hat. Die Geopolitiker – hierfür steht der Beitrag von Dieter Klein – entwerfen eine europäische Sicherheitsordnung jenseits aller militärischen Realitäten vor Ort. Man muss kein Prophet sein, um zu wissen, dass es beide Varianten nicht geben wird.
So konträr die beiden Standpunkte auch sein mögen, in einem Punkt reichen sie sich die Hand: Beide beziehen sich auf den Staat, nicht auf die Arbeiterbewegung, abstrahieren dabei im Interesse eines höheren Anliegens von dessen Klassencharakter. Auf dieser Grundlage ist es schwer, eine Position zu beziehen, die sich weigert, dem Interesse der herrschenden Klasse auf der einen oder anderen Seite zu dienen.
Es wäre aber möglich gewesen herauszuarbeiten, an welchen Punkten Linke trotz unterschiedlicher Standpunkte dennoch zusammenarbeiten können: Mobilisierung gegen die Aufrüstung hierzulande und gegen die Militarisierung der Gesellschaft; Kontaktaufnahme zu ukrainischen Gewerkschaften und sozialen Bewegungen; humanitäre Hilfe; Mobilisierung für die unbürokratische Aufnahme von Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren…
Die strategische Rolle der Antikriegsbewegung in Russland bleibt unterbelichtet; eine Auseinandersetzung mit der Rolle der Gewerkschaften fehlt.
Der Band endet mit dem schon zitierten sehr interessanten Ausblick auf den »Krisenkapitalismus« von Tomas Konicz, der dessen Widersprüche ziemlich gut auf den Punkt bringt. Hans Schäppi und Roland Herzog skizzieren eine politische Perspektive für die Linke, die recht allgemein bleibt und sich vom Ausgangspunkt dieser Ausgabe, nämlich dem Krieg und die Linke, wieder entfernt.