Die deutschen Gewerkschaften und der Ukrainekrieg
von Malte Meyer
Eine Personalie vorweg: Seit dem 1.Mai 2022 ist Oliver Burkhard, der ehemalige Leiter des IG-Metall-Bezirks Nordrhein-Westfalen, Vorstandsvorsitzender des Rüstungskonzerns ThyssenKrupp Marine Systems (TKMS). »Ich hab damals meinen Job für die Mitglieder der IG Metall gemacht, ohne die Unternehmen zu vergessen. Mittlerweile mache ich den Job für ein Unternehmen, aber ohne die Mitarbeitenden zu vergessen«, gab Burkhard, dessen Jahresgehalt schon als Arbeitsdirektor bei Thyssen bei rund 3 Millionen Euro gelegen hatte, im September letzten Jahres gegenüber Zeit online zu Protokoll.
Ist also der Widerspruch zwischen Arbeitnehmervertretung und Kriegswaffenproduktion doch nicht so groß, wie das gewerkschaftliche Bekenntnis, nach wie vor »Teil der Friedensbewegung« zu sein, es nahelegt?
Zumindest deuten seit dem Beginn des Ukrainekriegs etliche Wortmeldungen aus dem gewerkschaftlichen Spektrum darauf hin. In einer ersten Resolution von Anfang März 2022 ließ der DGB verlauten, die Bundesregierung habe »zu Recht verteidigungspolitisch schnell auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine reagiert«, und verband die Zustimmung zum Aufrüstungskurs der Ampelparteien lediglich mit dem Wunsch, dass die geplanten Milliardenausgaben nicht zulasten von Sozialleistungen gehen mögen.
Im Dezember 2022 forderte dann auch der IG-Metall-Bezirk Küste im Verein mit Unternehmerverband, Rüstungsindustrie und schwarz-grüner Landesregierung in Schleswig-Holstein ein »Gelingen der sicherheitspolitischen Zeitenwende« und wandte sich explizit gegen ein Zusammenstreichen der geplanten Beschaffungen.
Unlängst schließlich organisierte die Münchener IG Metall ein Zusammentreffen von Verteidigungsminister Pistorius mit Betriebsräten bayerischer Rüstungsunternehmen. Hubert Otto, Betriebsratschef beim Panzerbauer Krauss-Maffei-Wegmann, sagte bei dieser Gelegenheit unter dem Beifall der anwesenden Gewerkschaftskolleg:innen, das von der Bundesregierung beschlossene Sondervermögen habe zwar eine »freudige Erwartungshaltung« ausgelöst. »Aber leider sehen wir bei uns noch keine großen Anzeichen, die eine Zeitenwende einläuten würden.«
Die Vorläufer
Gewerkschaftliche Burgfriedenspolitik hat demnach zwar starke Konjunktur, historisch beispiellos oder gar überraschend ist sie aber nicht wirklich.
Die allmähliche Remilitarisierung deutscher Außenpolitik seit der Wiedervereinigung – an der BRD-Beteiligung am Kosovo-Krieg 1999 ebenso leicht ablesbar wie an der offiziösen Verfemung einer »Kultur militärischer Zurückhaltung« auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2014 – wurde von den insgesamt schwächer gewordenen Gewerkschaften zwar nicht hurrapatriotisch gefeiert, bei gelegentlichem Zähneknirschen wohl aber prinzipiell akzeptiert. Zu Antikriegsprotesten kam es lediglich dann, wenn diese (wie im Falle des US-amerikanischen Angriffskriegs auf den Irak 2003) auf der Linie der Bundesregierung lagen.
Anders als oft kolportiert hielt sich aber auch schon vorher der gewerkschaftliche Widerstand gegen Wiederbewaffnung und Notstandsgesetze in überschaubaren Grenzen – im Kalten Krieg musste der Kampf gegen den Kommunismus nach Auffassung vieler Gewerkschafter:innen schließlich sowohl nach außen als auch nach innen geführt werden.
Das Urbild gewerkschaftlicher Kriegsbefürwortung indes bleibt der August 1914, als sich die Gewerkschaften mit ihrem offiziell erklärten Verzicht auf Arbeitskämpfe (und mit der Zeichnung von Kriegsanleihen) für vaterländische Hilfsdienste wie etwa die Denunziation von kriegsgegnerisch eingestellten Kollegen bei den kaiserlichen Behörden qualifizierten.
Umstritten ist innerhalb der radikaleren Linken seither eigentlich nur, ob die deutschen Gewerkschaften nach 1914 auf die Unterstützung des hiesigen Imperialismus festgelegt waren oder ob die Zuspitzung innergewerkschaftlicher Widersprüche nicht zumindest potenziell eine Metamorphose zu systemoppositionellen Organisationen ermöglicht. Anhänger:innen dieser Position könnten in der gegenwärtigen Situation z.B. darauf verweisen, dass die Befürwortung von ukrainischer Vaterlandsverteidigung und deutscher Aufrüstung innerhalb der deutschen Gewerkschaften keineswegs einhellig ist, sondern dass es durchaus vernehmbare Gegenstimmen gibt.
Gegenstimmen
So hat IGM-Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban im Gefolge der Wortmeldung von Jürgen Habermas mit der »unreflektierten Gesinnungsethik« der von einem »Hofreiter-Syndrom« besessenen »Moral-Bellizisten« abgerechnet und für ein verantwortungsethisches Bemühen um eine Deeskalation des geopolitischen Konflikts geworben: »Trotz nicht optimistisch stimmender Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit bleibt es Aufgabe einer kritischen Öffentlichkeit, die fatale Logik und fehlenden Perspektiven einer reaktivierten Rüstungsspirale in der Debatte zu halten und zu Elementen einer entsprechenden Oppositionspolitik zu machen.«
In eine politisch ähnliche Richtung ging der vom ehemaligen DGB-Vorsitzenden Reiner Hoffmann mitinitiierte Aufruf »Frieden schaffen – Waffenstillstand und gemeinsame Sicherheit jetzt!«, der im Frühjahr 2023 von zahlreichen (wenngleich vor allem früheren) Gewerkschaftsfunktionären unterzeichnet wurde.
Und auch die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Zusammenarbeit mit der Hanauer IG Metall organisierte Tagung »Den Frieden gewinnen, nicht den Krieg« warb unmissverständlich für nichtmilitärische Wege zwischenstaatlicher Konfliktlösung. Nicht zuletzt ist der einzige grüne Bundestagsabgeordnete, der den Kriegskurs seiner Fraktion nicht zu teilen scheint, ausgerechnet ein einstiger Spitzengewerkschafter: der frühere Ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske.
Aber selbst wenn derartige Indizien die Existenz einer zumindest nichtbellizistischen Unterströmung in den deutschen Gewerkschaften andeuten, wäre mit so einem Befund weder etwas über deren tatsächliche Breite noch über ihren real existierenden Einfluss gesagt. Immerhin bewegen sich alle genannten Interventionen vorerst auf einer rein publizistischen Ebene und benennen nicht einmal die Bedingungen, unter denen sie real existierende Folgen haben könnten.
Mit dem sog. »Kerngeschäft« der Tarifpolitik bleibt der wichtigste Prüfstand des immer mal wieder beschworenen »gesellschaftspolitischen Mandats« der Gewerkschaften überdies vollkommen ausgeblendet. Dabei zeigen gerade die Tarifauseinandersetzungen in der ersten Jahreshälfte sehr deutlich, wie stark der aktuelle Wirtschaftskrieg nicht zuletzt die Gewerkschaften erfasst hat. Zum einen verunklarten sie den Zusammenhang zwischen Krieg und Inflation nach Kräften, zum anderen taten sie alles, um nach einer Phase des für unvermeidlich gehaltenen »Dampfablassens« rasch zu Tarifabschlüssen zu gelangen, die auf Reallohnverluste ebenso hinauslaufen wie auf Kriegsgewinne marktbeherrschender Unternehmen.
Plausibler als die Annahme, innerhalb der Gewerkschaften existierten zuspitzungsfähige Konflikte zwischen einer sozialpatriotischen Rechten und einer kriegsgegnerischen Linken, erscheint vor diesem Hintergrund die These, dass sich das Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Gewerkschaftsflügeln nicht zuletzt in der Friedensfrage besser als das einer eingespielten Arbeitsteilung verstehen ließe. So gesehen würden (linke) Mai- oder Antikriegstagsreden für Frieden und Abrüstung dem (rechten) Alltagsgeschäft von gewerkschaftlichem Rüstungslobbyismus erst jene moralischen Weihen verleihen, die zur Beruhigung unvermeidlicher Debatten und Gewissenskonflikte notwendig sind: Schließlich geht gerade in Kriegszeiten nichts über den inneren bzw. sozialen Frieden!
Der Autor lebt in Köln und veröffentlichte 2017 das Buch Lieber tot als rot. Gewerkschaften und Militär in Deutschland seit 1914, das bei edition assemblage erschienen ist.
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