Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2023

aus SoZ 11/23, Seite 2

von Hermann Dierkes

Ich halte den Artikel von Fabian Lehr für äusserst problematisch. Er ist voller Passagen, die den genozidalen Rachefeldzug der israelischen Regierung und Armee geradezu legitimieren und den sog. Israel-Freunden nach dem Mund reden:

”Jede von der Hamas beschlossene neue Gewaltaktion hat nicht die Überwindung des israelischen Kolonialismus zum Ziel, sondern die Konservierung des status quo.” ”Die in regelmäßigen Abständen von ihr inszenierten Gewaltwellen sind keine spontanen Aktionen der Wut von normalen PalästinenserInnen …” usw. (Hervorhebung von mir, H.D.); ”Gazastreifen quasi Privatbesitz dieser Bande”, ”theokratische Mafia”, der Ausbruch vom 7. Oktober war ”keine militärische Aktion, sondern ein Mord- und Plünderzug” usw. Wer hat in den letzten Jahren ständig ”Gewaltexzesse” losgetreten? Kamen die aus Gaza, was war das und in welchem Verhältnis standen sie zu den ”Vergeltungsschlägen” Israels? Sind etwa die hunderte ziviler Opfer – Tote und Verstümmelte – der friedlichen Rückkehrmärsche an die Demarkationslinie schon vergessen, die von israelischen Scharfschützen zu verantworten sind?

Für Netanjahu handelt es sich um den Krieg zwischen ”Zivilisation und Barbarei”. Er ist der oberste Repräsentant eines kolonialen Siedler- und Apartheidstaats, der sich buchstäblich auf den Knochen eines unterdrückten Volkes erhebt. Lehr bringt es auch noch fertig, von Israel als einem ”demokratischen Staat” zu sprechen. Netanjahu und seine Regierungen haben das kleine Gaza und seine 2,3 Millionen seit 16 Jahren eingekesselten, verarmten und völlig perspektivlosen Menschen fünf Mal schwer angreifen und bombardieren lassen.

Jeder Angriff war – als Antwort auf Widerstandsaktionen aus Gaza – vollkommen unverhältnismässig, völkerrechtswidrig und in der Konsequenz völkermörderisch. Der derzeitige Bombenterror, der bereits fast 60 % der Wohnungen zerstört hat, nicht vor Krankenhäusern, Schulen und jeder Art ziviler Infrastruktur und Versorgung halt macht, ist der vorläufige Höhepunkt einer von der zionistischen Regierung und der Armeeführung betriebenen Gewaltorgie (”Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und das bestimmt unser Handeln”) die nur ein Ziel hat: die Vertreibung und Vernichtung palästinensischen Lebens in Gaza und in ihrem Windschatten die weitere Vertreibung und Annexion im Westjordanland durch Armee und faschistische Siedler. Das alles wird kaum verhüllt von den USA als Hauptwaffenlieferant und der EU unterstützt.

Ich teile auch nicht die Einschätzung von F. Lehr, dass ”der von der Hamas gelieferte Vorwand für einen zukünftigen, militärisch vollkommen risikofreien Kleinkrieg” so willkommen sei für die israelische Rechte. Wir haben es schon jetzt nicht mehr mit einem ”Kleinkrieg”, sondern mit einem Vernichtungskrieg zu tun. Die enormen Kosten dieses Krieges für Israel, das Überleben Netanjahus und seiner Regierung müssten noch gesondert erörtert werden. Ich bin der Meinung, dass Lehr auch hier falsch liegt. Dafür fehlt mir aber hier der Platz.

Die zentralen Akteure, ihre unerhörten Gewaltexzesse und ihre Komplizenschaft sollten im Mittelpunkt der SOZ-Berichte und Kommentare und praktischer linker Politik stehen und nicht die Auseinandersetzung mit der jeweiligen politischen Führung eines kolonisierten Volkes. Die Kritik der Hamas, deren politische Ausrichtung und Methoden nicht die unseren sind, ist sicher erforderlich, aber sie ist angesichts des Grundkonflikts nachgeordnet. In dem Grundkonflikt zwischen weit überlegener Kolonialmacht und einer unterdrückten Nation bzw. antikolonialer Erhebung kann es kein ”einerseits – andererseits” geben.

Es ist unzulässig und politisch falsch, die Vorgeschichte abzuschneiden, die zu antikolonialen Ausbrüchen führen kann, die wir als grässlich empfinden. Das galt für das revolutionäre Russland, für Algerien, Südafrika und andere Länder. Es ist unerlässlich, die Ursachen und Verantwortung dafür blosszustellen und für Freiheit und Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes einzutreten. Nur in einem solchen Prozess besteht die Chance, dass sich eine linke Massenführung entwickelt.

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