Tollkühn und hochriskant
von Kai Böhne
Im Mai 2022 meldete die Süddeutsche Zeitung einen Weltrekord: Die 103jährige Schwedin Rut Larsson sei als älteste Fallschirmspringerin in das Guinness-Buch der Rekorde aufgenommen worden.
223 Jahre zuvor gab es noch kein Guinness-Buch, sonst hätte die Französin Jeanne Labrosse (1775–1847) am 12.Oktober 1799 auch einen Eintrag im Buch der Superlative bekommen.
Nach einer Ballonfahrt glitt sie aus 900 Metern Höhe mit einem von ihrem Ehemann Jacques Garnerin (1769–1823) entwickelten Fallschirm zu Boden. Der Fallschirm war an der Gondel des Ballons befestigt, nach Abtrennung der Ballonhülle sank Labrosse im Gondelkorb zu Boden. Das war der weltweit erste Fallschirmsprung einer Frau.
Zwei Jahre zuvor, am Abend des 22.Oktober 1797 hatten sich im Pariser Parc Monceau zahlreiche Schaulustige versammelt. Sie wollten einem besonderen Ereignis beiwohnen und beobachteten andächtig, wie der Luftfahrtpionier Jacques Garnerin mit einem Heißluftballon in die Höhe stieg. Sein Korb hing nicht nur am Ballon, sondern auch an einem Stoffgebilde, das aussah wie ein Regenschirm.
In etwa 900 Metern Höhe durchtrennte Garnerin das Verbindungsseil zum Ballon, daraufhin entfaltete sich der riesige Regenschirm. An diesem Fallschirm hängend, senkte sich der Korb mit seinem Insassen heftig pendelnd der Erde entgegen.
Leicht hätte es zu einem Unglück kommen können, denn der Fallschirm hatte an seinem Scheitel keine Öffnung. Die verdichtete Luft strömte über den Rand hinaus und brachte Schirm und Korb gefährlich ins Schwanken. Der erste bemannte Fallschirmsprung endete mit einer äußerst unsanften Landung, doch die Zuschauer jubelten und waren begeistert. Nach einer Anregung des Astronomen Jérôme Lalande modifizierte Garnerin seine Fallschirme und brachte fünf Jahre später eine kleine Öffnung am Scheitelpunkt an, durch die Luft entweichen konnte.
Der Preis
Durch seine öffentlichen Experimente erlangte Garnerin größere Popularität. Mit verschiedenen Ballonfahrt- und Fallschirmvorführungen tourte er durch Europa. Dabei wurde er von seiner Frau Jeanne Labrosse, die seine Flugleidenschaft teilte, unterstützt.
Der Enthusiasmus muss ansteckend gewesen sein. Auch Garnerins Nichte Elise Garnerin (1791–1853) wurde begeisterte Ballonfahrerin und Fallschirmspringerin. Zehn Tage nach ihrer Tante absolvierte sie als Kind ihren ersten Sprung aus 1000 Metern Höhe. Ihre Familie setzte sich über ärztliche Warnungen hinweg.
Später schloss sich Elise einer Gruppe von Luftakrobaten an und unternahm in verschiedenen Ländern Europas zahlreiche Absprünge vor Publikum. Ihr Wagemut verschaffte ihr den Beinamen »Venus im Ballon«.
Als erste deutsche Fallschirmspringerin gilt die Schneiderin und Luftakrobatin Käthe Paulus (1868–1935). Von ihrem Lebenspartner, dem ausgebildeten Luftschiffer Hermann Lattemann (1852–1894) erlernte sie die Kunst des Ballonfahrens und Fallschirmspringens. Als gelernte Näherin unterstützte sie ihn bei der Herstellung und Reparatur von Ballonen und Fallschirmen. Lattemann experimentierte mit Fallschirmen. Er entwickelte einen zusammenlegbaren Schirm sowie einen Ballon mit Metallring, der sich in einen Fallschirm verwandeln ließ.
Im Juli 1893 unternahm das Paar mit einem dritten Passagier eine Ballonfahrt. Nachdem Lattemann den Passagierkorb per Fallschirm verlassen hatte, gelang es Käthe Paulus, Mitfahrer und Ballon wieder sicher zu Boden zu bringen.
Wenige Tage später unternahm sie als erste deutsche Frau einen Fallschirmsprung. Das Paar zog von Stadt zu Stadt und zeigte luftakrobatische Kunststücke vor Publikum. Ein Jahr später, im Juni 1894 musste Käthe Paulus am Fallschirm hängend miterleben, wie ihr Partner zu Tode stürzte. Nachdem sie aus dem Ballonkorb abgesprungen war, wollte Lattemann die beiden Ballonhälften in einen Fallschirm verwandeln. Es war sein dritter derartiger Sprungversuch. Doch der Ballon reagierte nicht wie vorgesehen. Lattemann bezahlte sein Experiment mit dem Leben.
Auch Jacques Garnerin wurde ein Opfer seiner Leidenschaft. Beim Befüllen eines Ballons erschlug ihn ein herabfallender Balken.
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