Über die Stimmung in der Bevölkerung und unter den Soldaten
Interview mit Genossen der Arbeiterfront der Ukraine
Das nachstehende Interview führt die italienische linkskommunistische Online-Zeitschrift Pungolo rosso mit Genossen der Arbeiterfront der Ukraine (RFU).
Die Arbeiterfront der Ukraine ist nach eigenen Angaben aus einer Telegram-Gruppe von Schülern und Studenten entstanden; sie macht vor allem Bildungsveranstaltungen, Agitation und juristische Beratung. Die Gruppe ist marxistisch-leninistisch orientiert, sie scheint mit dem ML-Flügel der Kommunistischen Organisation in Deutschland in Verbindung zu stehen.
Das Interview wurde am 5.Juli online gestellt.
Was ist die Bilanz des Krieges in bezug auf Zerstörung, Tote und Auswanderung 15 Monate nach Beginn der russischen Invasion?
Die nationale Bourgeoisie, die gemeinhin als »die Oligarchen« bezeichnet wird, hat trotz eines gewissen Vermögenszuwachses seit Kriegsbeginn insgesamt mehr Verluste als Zuwächse – diese stammen übrigens hauptsächlich aus dem Ausland, nicht aus dem Inland.
Der Staat verstaatlicht weiterhin unrentable Vermögenswerte und zahlt den früheren Eigentümern eine Entschädigung dafür, die jedoch nicht alle Verluste deckt. Früher oder später werden diese Vermögenswerte wieder privatisiert werden können, und höchstwahrscheinlich werden sie nicht an nationale oder lokale Kapitalisten gehen.
Unsere nationalistischen Patrioten behaupten, die Nachkriegsukraine werde ein schnelles Wirtschaftswachstum erleben, weil sich der Agrarsektor entwickeln wird, es werde ein »Agro-Empire« entstehen. Sie sagen uns jedoch nicht, dass es ausländische Investitionen von Unternehmen wie Bayer aus Deutschland sein werden, die das ermöglichen, nicht etwa unabhängige Landwirte oder nationale Agrarkomplexe – die haben nämlich angesichts des Rückgangs der Anbauflächen und der Exportschwierigkeiten mit großen Problemen zu kämpfen. Vor kurzem hat eine Auktion für ukrainisches Land begonnen, das zu niedrigem Preis verkauft wird; der Zugang zur Auktion ist ukrainischen Bürgern, zumindest im Moment, verwehrt.
Das wirft die Frage auf: »Wofür kämpfen unsere Landsleute eigentlich? Schützen sie wirklich die Welt vor dem russischen Imperialismus und stellen sich auf die Seite von Freiheit und Demokratie?« Schließlich wollen ausländische Unternehmen Kapital exportieren und nicht ukrainischen Arbeitern wohlwollende und kostenlose Hilfe leisten.
Die ausländischen Interessen
Vor dem Krieg war in der Ukraine neben dem Agrarsektor auch die Metallindustrie gut entwickelt. Viele Betriebe, die seit den Tagen der UdSSR von der modernen Ukraine übernommen wurden und in den letzten 30 Jahren freie Marktwirtschaft überlebt haben, wurden durch die ständige Bombardierung durch die Russische Föderation teilweise oder vollständig zerstört.
Natürlich ist ausländisches Kapital auch in diesem Sektor an Investitionen interessiert; zudem wurden viele Unternehmen einfach in die EU verlagert – zu Vorzugstarifen, sodass der Staat fast keine Steuern einnimmt. Unsere Regierung trägt zur »Verbesserung des Investitionsklimas« bei, indem sie ausländischen Unternehmen vereinfachte rechtliche Verfahren und wirtschaftliche Vorteile bietet, die Lasten daraus aber auf die Schultern der Arbeiter abwälzt.
Auf dem Territorium der Ukraine gibt es zudem reiche Gasvorkommen, obwohl die notwendigen Bedingungen für die Gasförderung und -verarbeitung derzeit nicht gegeben sind. Aber amerikanische und britische Unternehmen wie Shell, Chevron, Exxon Mobil und Halliburton sind an den Feldern interessiert. Konflikte zwischen diesen Konzernen und den Unternehmen des russischen Öl- und Gassektors um die Förderrechte gab es schon lange vor Beginn des Krieges, sogar vor dem sog. Maidan 2014, der den Kurs der ukrainischen Bourgeoisie zugunsten des prowestlichen Kapitals geändert hat.
Obwohl Russland seit Beginn des Krieges in der Lage war, ziemlich große Gebiete im Osten der Ukraine zu besetzen, wo sich die meisten Rohstoffe und die Schwerindustrie befinden, ist das ein viel kleineres Territorium, als Russland ursprünglich ins Auge gefasst hatte. Zudem ist nicht klar, ob die russische Armee in der Lage sein wird, die Gebiete, die sie derzeit kontrollliert, zu halten.
Laut Schätzungen der Weltbank beliefen sich die Verluste, die der Ukraine durch die Invasion entstanden sind, bis zum 27.April 2023 auf 411 Mrd. US-Dollar. Nach einer (eventuellen) Befreiung der besetzten Gebiete könnte sich dieser Betrag jedoch verdoppeln.
Der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung zufolge müsste die ukrainische Wirtschaft in fünf aufeinander folgenden Jahren um mindestens 14 Prozent wachsen, um den Vorkriegsstand zu erreichen.
Nach Angaben der Vereinten Nationen halten sich derzeit etwa 8 Millionen ukrainische Flüchtlinge in Europa auf. Etwa 3 Millionen davon sind über die Grenzen von Belarus und Russland gekommen. Dabei hat unser Land seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion durch natürlichen Bevölkerungsrückgang schon etwa 12 Millionen Menschen verloren. Zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs lebten in der Ukraine etwa 40 Millionen, heute sind es noch etwa 30 Millionen. Und die Verbliebenen sind überaltert.
Wie hat sich in diesen 15 Monaten die Stimmung unter den Arbeitern, Bauern und Jugendlichen gegenüber dem Krieg verändert? Gibt es Anzeichen für Kriegsmüdigkeit oder Antikriegsproteste, oder ist die antirussische nationalistische Stimmung immer noch hegemonial?
Viele Menschen unterstützen den Staat weiterhin, allerdings aus unterschiedlichen Beweggründen.
Zu Beginn des Krieges herrschte Panik, sowohl im Staatsapparat als auch unter den einfachen Bürgern. Viele wussten nicht, wohin sie gehen sollten und was sie zu erwarten hatten. Die staatliche Propagandamaschinerie reagierte jedoch schnell, organisierte einen ununterbrochenen TV-Marathon und begann, nationalistische und chauvinistische Inhalte in die Bevölkerung zu verbreiten, was zusammen mit den Bombeneinschlägen in ihrer Nähe Wirkung zeigte. Die Rekrutierung in die lokale Miliz wurde gut organisiert, das war auch notwendig, um die Stadtgarnisonen zu unterstützen.
Im Sommer 2022 begannen diese Berichte die Bevölkerung zu ermüden, sie hatte aufgehört, durch die Straßen zu rennen, um Informationen über jede verdächtige Aktion der Nachbarn zu sammeln. Nun setzte mit einem Paukenschlag die Unterstützung der sog. zivilisierten und demokratischen Welt ein, vertreten durch die Vereinigten Staaten und Europa. Und es kam die erste Militärhilfe.
In den letzten 30 Jahren haben wir uns an die Denkweise gewöhnt, es genüge, die Korruption zu besiegen, die falschen Beamten und falschen Kapitalisten zu beseitigen und tüchtige westliche Geschäftsleute einzuladen, damit es uns besser geht. Lasst uns unsere Vergangenheit und Gegenwart entkommunisieren und die russische Unterdrückung loswerden, dann wird das Leben gut und angenehm sein.
Und natürlich hat die Befreiung der Regionen um Kiew und Charkiw sowie der Rückeroberung von Cherson unsere Landsleute in der Hoffnung bestärkt, dass der Krieg bald zu Ende sein wird und die Ukraine wieder zu ihrer früheren Pracht gelangt.
Wie steht die Bevölkerung zum Krieg?
Es ist interessant, dass die Menschen den Krieg umso mehr unterstützen, je weiter sie von der Front entfernt sind. Die Älteren unterstützen mehrheitlich die proukrainische Position, haben aber in den letzten 30 Jahren das Vertrauen in das Handeln unserer Behörden völlig verloren und sind zu dem Schluss gekommen, dass wir uns niemals von der Schuld, die uns der Krieg aufgebürdet hat, und von den Zerstörungen, die er verursacht hat, befreien werden. Und dass das Ziel der westlichen Länder ohnehin nicht darin besteht, die Ukraine wiederherzustellen, die vor dem Krieg existierte, sondern ihr die letzten Lebenssäfte auszupressen.
Diese Menschen, die zumindest einen Teil ihres bewussten Lebens in der UdSSR verbracht haben, erinnern sich zunehmend an diese Zeit. Obwohl die staatliche Propaganda darauf abzielt, Abscheu davor zu schüren, beschleicht die Bevölkerung das Gefühl, dass die Dinge heute noch falscher sind als zu Zeiten der UdSSR. Trotz Gulag, Hungersnot und Armut erinnern sich die Menschen immer noch an die Gleichheit, die damals herrschte. Die Meinung der jungen Leute unterscheidet sich vor allem je nach ihrem Wohlstand.
Es gibt die kleine Schicht einer Arbeiteraristokratie, die aufgrund ihrer Nähe zum Großkapital dessen Interessen unterstützt, sich um die Kapitalisten schart und folglich den Krieg befürwortet. Die Masse der Arbeiter geht der Regierungspropaganda auf den Leim und unterstützt die Fortsetzung des Krieges bis zum Sieg. Je höher der Lohn und je weniger der Arbeitsplatz vom Staat oder vom Binnenmarkt abhängt, desto mehr sehnen Arbeiter ein siegreiches Ende des Krieges herbei, koste es, was es wolle, zumindest solange es das eigene Lebensumfeld nicht direkt beeinträchtigt.
Die Realität des Krieges öffnet diesem Teil der Arbeiter allerdings auch immer mehr die Augen für die wahren Verhältnisse. Die Seeleute befanden sich z.B. in einer Situation, in der sie einfach nicht arbeiten konnten. Eine Zeit lang war es praktisch unmöglich, die Ukraine zu verlassen; das gelang nur durch Bestechung eines Grenzbeamten oder Militärkommissars. Deshalb starteten die Matrosen von Odessa eine Demonstration, die jedoch mit dem Eintreffen der Sicherheitsdienste und Militärkommissare schnell beendet wurde. Die Initiatoren der Demonstration wurden eine Zeit lang inhaftiert; später wurden sie gegen Zahlung einer hohen Kaution freigelassen.
Trotz der Angriffe auf ihr elementares Recht auf Arbeit halten die Seeleute weiterhin an regierungsfreundlichen Positionen fest. Wir haben versucht, mit Vertretern ihrer Organisation in Kontakt zu treten und sie zu einem Interview eingeladen; zunächst haben sie zugestimmt, aber dann haben sie offenbar von den Positionen unserer Organisation erfahren und unsere Einladung ignoriert.
Es ist jedoch nicht ganz klar, ob dies aus ideologischen Gründen geschah oder aus Angst, hinter Gittern zu landen. Es sei daran erinnert, dass wir für die Verbreitung kommunistischer Propaganda mit fünf bis zehn Jahren Gefängnis bestraft werden können.
Auch Arbeiter mit niedrigem Einkommen unterstützen überwiegend die staatliche Politik. Allerdings müssen sie sich viel mehr als andere um die Beschaffung von Wohnraum und Lebensmittel kümmern, wofür sie einen Arbeitsplatz brauchen, was angesichts der hohen Arbeitslosigkeit sehr problematisch ist. Sie sind eher sympathische Mitläufer der Regierung.
Die Flüchtlinge, die ihre Heimat vorübergehend oder dauerhaft verloren haben, sind in der Regel viel aggressiver gegenüber der Russischen Föderation und auch gegenüber gewöhnlichen russischen Bürgern, weil die Feindseligkeiten auf ihrem Land, in ihrer Stadt oder ihrem Dorf stattgefunden haben. Dabei wollen viele von ihnen nicht den Sieg um jeden Preis, sondern nur Frieden auf ihrem eigenen Territorium, damit sie endlich nach Hause zurückkehren können.
Die Situation der Binnenflüchtlinge ist sehr beklagenswert. Sie müssen sich meist selbst um Unterkunft, Nahrung und Arbeit kümmern. Die staatliche Unterstützung, wenn es sie gibt, ist lächerlich gering.
Die Mehrheit der Arbeiter erkennt weder die Ursachen noch die Folgen dieses Krieges. Sie haben lediglich die beiden Seiten des Konflikts im Kopf, die gute und die schlechte, und entscheiden sich für eine der beiden Seiten.
Die Haltung der Soldaten
Zu Beginn des Krieges gab es viele ideologisch motivierte freiwillige Soldaten, vor allem unter denen, die die Territorialarmee durchlaufen haben. Diese ideologische Begeisterung hat etwas nachgelassen, trotz der Bemühungen der politischen Ausbilder an der Front, die nur dazu beitragen, chauvinistischen und nationalistischen Hass zu schüren. Das ist vor allem auf folgende Faktoren zurückzuführen:
- Die schlechte Ausrüstung. Es ist sehr schwierig, mit dem zu kämpfen, was der Staat zur Verfügung stellt. Die Soldaten sind gezwungen, bei der Familie, Freunden oder Kollegen Spenden für gute Ausrüstung zu sammeln.
- Die große Anzahl von Menschen, die mobilisiert werden. Die Mobilisierung hat jeden erfasst, und in vielen Gegenden geschieht sie wahllos. In den Städten kann es buchstäblich passieren, dass ein Auto kommt, aus dem Leute in Militäruniformen aussteigen und Passanten in das Auto schubsen. Das führt dazu, dass auch kinderreiche Väter und Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht für den Militärdienst vorgesehen sind, an der Front landen. Und das wirkt sich auf die Moral der Truppe aus.
- Ein großer Teil der Soldaten ist wegen des Geldes in den Krieg gezogen. Die Arbeitslosigkeit ist hoch und der Lohn für den Dienst in den ukrainischen Streitkräften liegt viel höher als ein Durchschnittsgehalt. Deshalb haben sich viele Arbeitslose oder Menschen mit geringem Einkommen dazu entschlossen, sich als Soldaten zu versuchen.
- Korruption und Unkenntnis der militärischen Taktik auch in der militärischen Führung. Sehr häufig sind Befehle nicht taktisch, sondern politisch motiviert, das macht die Soldaten wütend. An der Front kommt es zu Desertionen, vor allem in den am heftigsten umkämpften Gebieten. Kürzlich haben Soldaten einen ranghohen Offizier erschossen, der einen selbstmörderischen Befehl gegeben hatte. Solche Situationen können in Zukunft öfter auftreten. Je länger der Krieg dauert, desto mehr Fälle von Desertion und Hinrichtung von Offizieren wird es geben.
Die Streitkräfte der Ukraine sind ideologisch noch immer gegen die Russische Föderation aufgebracht, aber sie sind auch gegen ihre derzeitige Führung aufgebracht. Bislang wurde die Frage der Machtübergabe auf die Zeit nach dem Krieg aufgeschoben, aber jetzt können wir mit Sicherheit sagen, dass die Soldaten sich nicht als die Armee von Selenskyj und seiner Regierung sehen, sondern eher eine kleinbürgerliche Haltung einnehmen: Sie schützen »ihr« Land, das ihnen in Wirklichkeit nie gehörte und auch nie gehören wird, solange die Bourgeoisie in der Ukraine die Macht hat.
Was denken sie über die »Hilfe« der westlichen imperialistischen Mächte? Glauben die Arbeiter, Bauern und Jugendlichen wirklich, dass die Hilfe des imperialistischen Westens »selbstlos« für die »Freiheit« und »Selbstbestimmung« der Ukraine ist?
Ja, sie glauben daran. Die Arbeiter glauben wirklich, dass die ukrainische Wirtschaft nach dem Krieg einen Aufschwung erleben wird, der sich auf das Leben der einfachen Arbeiter auswirken wird. Sie glauben wirklich, dass es eine Integration in die EU und die NATO geben wird und dass diese Integration ihr Leben erleichtern wird.
Wenn wir uns die Vereinbarungen ansehen, die zwischen unserer Regierung und dem IWF unterzeichnet wurden, wird schnell klar, dass die Motivation der westlichen Länder rein imperialistischer Natur ist. Dann ist die Frage, ob das Volk noch genug Geduld hat, ob die Arbeiter zu ernsthaften Aktionen bereit sind und eine Organisation haben, die sie zum Kampf gegen den Imperialismus führt. Wie wir sehen, politisieren, erziehen und bewaffnen die Kapitalisten selbst die Arbeitermassen, die, wenn sie ihre eigenen Interessen erkennen, aufgerufen sind, die Macht der Kapitalisten zu stürzen.
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.