Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

Bert Brecht hielt nicht viel vom Recht auf geistiges Eigentum. Wir auch nicht. Wir stellen die SoZ kostenlos ins Netz, damit möglichst viele Menschen das darin enthaltene Wissen nutzen und weiterverbreiten. Das heißt jedoch nicht, dass dies nicht Arbeit sei, die honoriert werden muss, weil Menschen davon leben.

Hier können Sie jetzt Spenden
PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2023

Neukölln, Sonnenallee
von RAMSIS KILANI

Schwergerüstete Polizeipatrouillen und Festnahmen bis tief in die Nacht, Tränengas und Wasserwerfer, brennende Holzbarrikaden und Feuerwerkskörper: Die Unterdrückung von Palästina-Solidarität und die Gegenwehr ähneln in Teilen Berlins Aufstandsszenen in einer besetzten Zone. Seit dem 11.Oktober erneuern Berliner Behörden die Pauschalverbote gegen Palästina-Demos und sogenannte „Ersatzveranstaltungen“.

Diese Einschränkungen der Versammlungsfreiheit sind in Berlin seit Ende April 2022 zu gängigen Praktiken geworden. Verändert hat sich die Begründung seitdem nicht grundsätzlich: Es könne zu „volksverhetzenden, antisemitischen Aussagen“ und einer „Störung des öffentlichen Friedens“ kommen. Palästinenser seien angesichts der Lage vor Ort „erheblich angespannt und emotionalisiert“. Da sich pro-palästinensische Demonstrationen „zum Großteil aus Personen der arabischen Diaspora, insbesondere mit palästinensischem Hintergrund, zusammensetzen“, müssten diese untersagt werden. Nach Behauptungen der Polizei „belegen die Erfahrungen, dass zurzeit bei dieser Klientel eine deutlich aggressive Grundhaltung vorherrscht und man gewalttätigem Handeln nicht abgeneigt ist“.


Mit dieser Begründung wurden nicht nur palästinensische Versammlungen verboten, sondern auch jüdische Gedenkkundgebungen, Demos für die Meinungsfreiheit und ein Schulprotest gegen Lehrergewalt an einem palästinensischen Schüler – sie alle wurden zu „Ersatzveranstaltungen“ erklärt. Die Senatsverwaltung erließ am 13.Oktober ein Verbot gegen das Tragen des palästinensischen Tuches (Kuffiya) an Schulen. Zudem überstrichen die Berliner Polizei und das Ordnungsamt Palästinasymbole in der zum Großteil palästinensisch bewohnten und besuchten Sonnenallee in Berlin-Neukölln, forderte Läden auf, Palästinaflaggen abzuhängen und kletterte auf Bäume, um palästinensische Fahnen abzunehmen. Bei regelmäßigen Kontrollen reichte das Tragen einer Kuffiya aus, um ins Visier der Staatsgewalt zu geraten – selbst Minderjährige erlitten Polizeigewalt und Festnahmen.


Es war nur eine Frage der Zeit, bis dieses Pulverfass der Unterdrückung während der israelischen Flächenbombardierung Gazas hochgehen musste. Abends versammeln sich Gruppen in der Sonnenallee, um den Angriffen auf ihre Grundrechte zu trotzen. Nächtliche Katz- und Mausspiele mit der Polizei, bei denen Jugendlichen die schwerfällige Bereitschaftspolizei in Gassen und Hauseingängen austrickst, beleben die Nächte in der Sonnenallee, ebenso direkte Konfrontationen.


Wie lange die Berliner Behörden an diesen Zuständen festhalten wollen, ist unklar. Am 21.Oktober wurde erstmals wieder eine Massendemonstration von Tausenden von Protestierenden durch Kreuzberg und Neukölln erlaubt – ein erstes Einknicken. Klar ist: Wenn Grundrechtseinschränkungen in Berlin die Norm bleiben, wird sich weiterhin Gegenwehr organisieren.

Der Autor ist ein deutsch-palästinensischer Aktivist und aktiv in der Initiative Sozialismus von unten.

Teile diesen Beitrag:
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen

Spenden

Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF


Schnupperausgabe

Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.