Kohei Saitos Plädoyer für einen Degrowth-Kommunismus
von Angela Klein
Kohei Saito: Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus. Aus dem Japanischen von Gregor Wakounig. München: dtv, 2023. 320 S., 25 Euro
Kohei Saito, japanischer Marxist und Mitarbeiter der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), verfolgt mit dem Buch ein Anliegen, das er so direkt wie verständlich vermittelt: Er erklärt, das nur der Kommunismus in der Lage ist, die stationäre Wirtschaft zu schaffen, die notwendig ist, damit der Mensch seine natürlichen Lebensgrundlagen erhalten und ein Überleben der Gattung in einem relativen Überfluss sichern kann.
Wie das? Haben wir nicht erfahren – es ist gerade mal eine Generation her –, dass Kommunismus mit Mangel, Misswirtschaft und Diktatur zu übersetzen sei?
Keineswegs, sagt Saito. Die Staatsbürokratie, die in den sowjetischen Ländern herrschte, hat den kapitalistischen Produktivismus und verschwenderischen Umgang mit Rohstoffen nur unter anderen Vorzeichen fortgesetzt und stand darin dem Wohlfahrtsstaat kapitalistischer Prägung kaum nach. Und kommun, common, gemeinschaftlich war dort nichts, der gesellschaftliche Charakter der Produktionsmittel wurde über den Staat hergestellt. Und der wurde von einer Partei kontrolliert.
Aber der Reihe nach. Zunächst widerlegt Saito gründlich die gängigen Vorstellungen, wie die Klimakatastrophe in den Griff zu bekommen wäre. Sie taugen seiner Meinung nach alle nichts, bestenfalls sind es Palliative, um unser Gewissen zu beruhigen und uns selbst über die Dramatik der Situation hinwegzutäuschen. Schlimmstenfalls handelt es sich um zynische Manöver von Kapitalkreisen, aufs Geratewohl, dafür aber mit viel Einsatz von Kapital, schwerem Gerät und technischem Aufwand CO2 zu binden oder wegzuzerren – womit das Problem nur auf die künftigen Generationen verlagert wird.
Nacheinander unterzieht er den Green New Deal (also den Versuch, Wirtschaftswachstum von Umweltbelastung zu entkoppeln), das Geoengineering (also den Versuch, das CO2 aus der Atmosphäre zu entfernen) und die Versuche, die Kosten einer Fortsetzung der fossilen Wirtschaft räumlich und zeitlich zu verlagern, einer ausführlichen Kritik.
Aber auch an den Vorstellungen, die bislang unter ökologisch aufgeklärten Linken überwiegen, lässt er kein gutes Haar – nicht an der Fokussierung auf die Kritik der imperialen Lebensweise, noch an der »alten Degrowth-Schule«, die in negativen Begriffen wie Stagnation oder Verzicht stecken bleibt, weil sie mit der Überwindung des Kapitalismus nichts im Sinn hat und letztlich einen »guten Kapitalismus« anstrebt.
In den Fußstapfen von Marx
Dann holt er aus und rekapituliert noch einmal, was Marx zu der Debatte beizutragen hat. Marx’ Entwicklung von einer die alles revolutionierenden, kapitalistischen Produktivkräfte preisenden Position zu einer, die ihre zerstörerische Wirkung betont, hatte er bereits in seinem vorherigen, auf deutsch erschienenen Buch Natur und Kapital. Marx’ Ökologie in seiner unvollendeten Kritik des Kapitalismus (2016) dargelegt (siehe SoZ 3/2018). Die wesentlichen Erkenntnisse daraus fasst er noch einmal in allgemeinverständlicher Form zusammen und bleibt dabei an drei neuen Gedanken des späten Marx hängen:
- Die Erkenntnis, dass der Weg zum Sozialismus nicht einfach über die Weiterentwicklung der kapitalistischen Produktivkräfte führt. Nicht alle menschlichen Gesellschaften müssen »die Bewegung über den Kapitalismus zum Kommunismus« durchlaufen.
Als Beleg führt er den berühmten Brief von Marx an die spätere russische Sozialdemokratin Vera Sassulitsch aus dem Jahr 1881 an, in dessen letzter Version es heißt: »Die ›historische Unvermeidlichkeit‹ dieser Bewegung [des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus] ist … ausdrücklich auf die Länder Westeuropas beschränkt.« (MEW 19:242.)
Im ersten Entwurf des Briefes begründet er das: »Weil in Rußland, dank eines einzigartigen Zusammentreffens von Umständen, die noch in nationalem Maßstab vorhandene Dorfgemeinde sich nach und nach von ihren primitiven Wesenszügen befreien und sich unmittelbar als Element der kollektiven Produktion in nationalem Maßstab entwickeln kann. Gerade auf Grund ihrer Gleichzeitigkeit mit der kapitalistischen Produktion kann sie sich deren positive Errungenschaften aneignen, ohne ihre furchtbaren Wechselfälle durchzumachen. Rußland lebt nicht isoliert von der modernen Welt, noch weniger ist es die Beute eines fremden Eroberers wie Ostindien.« (MEW 19:385.)
Saito sieht darin eine Abkehr vom Produktivismus bei Marx. - Er sieht darin auch eine Abkehr von Marx’ früherem »eurozentristischen Geschichtsbild«, die allerdings bereits in den 1850er Jahren »mit seinem klaren Schwenk zum Anitikolonialismus« eingeläutet worden sei. Dieser Aspekt ist Saito besonders wichtig. Ausführlich erläutert er, warum der Kapitalismus sich nur reproduzieren kann, weil er die benötigten natürlichen Ressourcen mehrheitlich aus den Ländern des globalen Südens bezieht und die Kosten seiner Produktion in Form von Abfällen dorthin auslagert. Die Beendigung dieser Ausbeutung ist zentral für die Beendigung der kapitalistischen Reproduktion. Und im globalen Süden finden sich auch noch die vorkapitalistischen Gemeinschaften, von deren Umgang mit der Natur wir viel lernen können.
- Entscheidend für einen nachhaltigen Umgang mit der Natur ist das Gemeineigentum an Produktionsmitteln und deren gemeinschaftliche Verwaltung. Nur so kann ausgeschlossen werden, dass sich private Interessen/Sonderinteressen durchsetzen, die andere Mitglieder der Gemeinschaft ausschließen und enteignen; nur so können wissenschaftliche Erkenntnisse tatsächlich zum Leitfaden für den Umgang mit der Natur werden. Marx nennt als positives Beispiel für solch einen gemeinschaftlichen und deshalb rationalen Umgang mit der Natur die germanische Markgenossenschaft, bei der die gemeinschaftliche Bewirtschaftung von Grund und Boden dazu geführt habe, dass die Bodenqualität erheblich verbessert wurde. Den sorgsamen Umgang mit den natürlichen Ressourcen fand Marx in solchen genossenschaftlichen Erfahrungen und nicht etwa in ihrer zentralstaatlichen Verwaltung, auch dort nicht, wo der Staat der einzige Grundeigentümer war.
Degrowth-Kommunismus
»Marx’ Bruch mit dem progressiven Geschichtsbild, der mit der ökologischen Forschung begann, führte ihn auch zu einer grundlegenden Revision seiner Annahmen über die Überlegenheit des westlichen Kapitalismus. Das Ergebnis war nicht nur die Einsicht, dass es mehrere Wege zum Kommunismus gibt, sondern auch eine grundlegende Transformation der Konzeption des Kommunismus…«
Kommunismus wird hier nicht mehr nur verstanden als die freie Assoziation der Produzent:innen auf der Basis des Gemeineigentums an Produktionsmitteln, sondern auch als positiver Bezug auf stationäre, also keinem Wirtschaftswachstum verpflichtete Kreislaufwirtschaften. Den klarsten Beleg für diesen Positionswechsel sieht Saito in Marx’ Haltung zu vorkapitalistischen Wirtschaften. Hatte er Anfang der 1850er Jahre die indischen Kommunen aufgrund ihrer stationären Wirtschaft noch als statische, passive Gesellschaften, die »überhaupt keine Geschichte« besäßen, abgeschrieben, vertrat er in seinen letzten Lebensjahren die Ansicht, dass gerade die Beständigkeit der kommunalen Gesellschaften es ermögliche, der Kolonialherrschaft Widerstand zu leisten und den Kommunismus zu errichten.
Marx sei ein »Degrowth-Kommunist« geworden. Darunter versteht Saito:
- Den Wandel hin zu einer Produktion, die den Gebrauchswert im Mittelpunkt hat, nicht den Tauschwert. Die also die Produktion überflüssiger Werte abschafft mit der Folge, dass die Arbeitszeit verkürzt wird und systemrelevante Arbeit dominiert.
- Die Entschleunigung von Wirtschaft und Gesellschaft und infolgedessen die Schaffung von Spielraum:
– für eine grundlegende Demokratisierung von Produktion und Gesellschaft im Sinne der tatsächlichen Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe;
– für die Reparatur des Risses im Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur;
– für die Aufhebung uniformer Arbeitsteilung und für eine kreative, nicht mehr dem Zwang zur notwendigen Reproduktion unterworfenen Arbeit.
Saito verbindet damit die Aufforderung, endlich davon Abstand zu nehmen, das Bruttoinlandsprodukt als Maßstab für den gesellschaftlichen Reichtum zu akzeptieren. Längst gibt es andere Indikatoren, die das »gute Leben« treffender messen.
Ein anderer Überfluss
Die Abschaffung überflüssiger Werte, also solche, die nur hergestellt werden, weil man damit Geld verdienen kann, wird im Alltagsbewusstsein oft verstanden als Hinwendung zur Askese und zum Mangel – ein Zeichen dafür, wie sehr wir dem Denken in Warenkategorien verhaftet sind. Früher haben solche Debatten zur Frage geführt, was denn »wahre Bedürfnisse« seien – womit das Odium, man wolle den Menschen vorschreiben, was sie zu wünschen haben und was nicht, nicht beseitigt, sondern nur verbal ummäntelt wurde.
Saito geht einen anderen Weg. Er weist nach, wie der Kapitalismus durch Privatisierung künstliche Knappheit schafft, wodurch er überhaupt einen Preis bilden kann, der wiederum dafür sorgt, dass nur jene in einem relativen Überfluss leben können, die genügend Geld haben. Für die meisten Menschen auf der Welt bedeutet Kapitalismus Mangel – bis hin zu Hunger.
Die Wiederherstellung von Gemeingütern hingegen ermöglicht jedem Menschen der Gemeinschaft, an diesen teilzuhaben, ganz gleich wie vermögend er sonst sein mag. Gemeinwirtschaft ermöglicht also nicht nur einen rationellen Umgang mit den natürlichen Ressourcen, sondern auch einen relativen Überfluss wenigstens in bezug auf die Grundversorgung – was überhaupt erst kreative, von Zwängen befreite Arbeit ermöglicht: »das Reich der Freiheit«, wie Marx es nennt.
»Der laut Marx einzige Weg, den Riss [im Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur] zu kitten, ist eine radikale Umwälzung der Arbeitssphäre, die eine an die Naturkreisläufe angepasste Produktion ermöglicht.« Dies durchbuchstabiert und zu einem »Projekt« zusammengefasst zu haben, ist Saitos große Leistung. Er hat den Begriff »Kommunismus« auf seine Ursprünge zurückgeführt und ihm seine Würde wiedergegeben.
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