Ver.di nach Bundeskongress vor großen Herausforderungen
von Jürgen Senge
Bis zu den Wahlen zum Bundesvorstand, bei denen Orhan Akman als nicht vom Gewerkschaftsrat vorgeschlagen mit 23,9 Prozent der abgegebenen Stimmen ein achtbares Ergebnis erzielte, lief der Kongress noch glatt, später aber aus dem Ruder.
Ursächlich dafür waren u.a. Gastauftritte von Politikern. Der zeitliche Rahmen dafür wurde unterschätzt.
Viele Geschäftsordnungsanträge und persönliche Erklärungen von Delegierten, die nicht zur Sache sprachen, sorgten später dafür, dass kein einziger Antrag aus den Bereichen »Sozial-, Arbeitsmarkt- und Gesundheitspolitik« sowie aus dem Bereich »Nachhaltige Wirtschaft und Handlungsfähiger Staat« behandelt werden konnte. Die Erklärungen wurden teilweise genutzt, um die per Geschäftsordnung verhinderte reguläre Teilnahme an der Diskussion geschäftsordnungswidrig doch noch zu erwirken. Hier hätte man sich mehr Sachkenntnis der Delegierten sowie eine straffere Regie gewünscht. Erschwerend kam hinzu, dass sich die Abstimmung der Anträge über das Konferenztool sehr zeitraubend gestaltete.
In der Debatte zum Ukrainekrieg erhielt der Antrag des Vorstands E084 20,56 Prozent Gegenstimmen, nachdem 14 Änderungsanträge undemokratisch und ohne Debatte auf Antrag eines Delegierten en bloc abgestimmt wurden.
Der Antrag auf Verlängerung der Wahlperiode von vier auf fünf Jahre verfehlte mit nur 55 Prozent der Stimmen die notwendige Zweidrittelmehrheit deutlich.
Beide Abstimmungen zeigten, dass ein großer Teil der Anwesenden mit dem Kurs von Gewerkschaftsrat und Bundesvorstand in wesentlichen Fragen nicht einverstanden ist. Hier erwarten viele Kolleg:innen im Vorfeld zurecht mehr offene Diskussion und weniger Einflussnahme auf Delegierte. Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass letzteres vor und während der Konferenz mehrfach geschehen ist.
Bedenkt man, dass ein Antrag, der sich mit den Satzungsrechten der Gruppe LGTBIQ beschäftigte und der bei einer Annahme von 73 Prozent dazu führt, dass es nun eine neue Personengruppe »Queer« gibt, Anträge von Senior:innen und Erwerbslosen auf Ausbau ihrer Rechte aber abgelehnt wurden, ahnt man, wie viel Arbeit auf Gewerkschaftsrat und Bundesvorstand zukommt.
Grund für die Ablehnung erschreckend vieler Anträge, u.a. der Einrichtung einer Personengruppe für Menschen mit Behinderung, waren gravierende Formfehler. Warum sind sie im Vorfeld niemandem aufgefallen?
Da es auch Kritik am opulenten Rahmenprogramm gab, werden die Verantwortlichen einiges zu tun haben, um den Kongress aufzuarbeiten und die richtigen Schlüsse zu ziehen. Man kann dabei nur viel Erfolg wünschen und ihnen raten, den Ablauf des nächsten Kongresses weit im Vorfeld breit zu diskutieren, die Geschehnisse gut aufzuarbeiten, die Anträge ordentlich umzusetzen und nicht so zu verfahren, wie mit dem auf dem letzten Bundeskongress beschlossen Antrag, der eine breite Diskussion über die Arbeitszeitverkürzung forderte, die aber so nicht erfolgte.
Der Autor ist Mitglied im Präsidium des Ver.di-Bezirksvorstands Düssel-Rhein-Wupper und im Koordinierungskreis von Ver.di-Linke NRW.
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