Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2023

Zum Charakter der Hamas
von Fabian Lehr

Völlig überraschend sind am 7.Oktober nach einem Hagel von über tausend Raketen und Drohnen Hamas-Kämpfer auf dem Landweg wie von der See her in israelische Ortschaften am Rand des Gazastreifens eingedrungen, haben israelische Armeeposten überwältigt, aber auch willkürlich israelische Zivilisten ermordet, gefoltert und verschleppt. Zum Zeitpunkt der Niederschrift des Artikels gibt es auf israelischer Seite 200 Tote und tausend verwundete – Israel bestätigt, seit sehr lnger Zeit habe es keine auch nur annähernd vergleichbare Opferzahl auf ihrer Seite im Nahostkonflikt gegeben. Gleichzeitig wurden durch israelische Vergeltungsangriffe schon mindestens 238 Palästinenserin getötet und ebenfalls über tausend verwundet.

Natürlich stehe ich nicht auf der Seite Israels, ein Vasallenstaat des US-Imperialismus und eine der letzten klassischen Kolonialmächte der Welt, der allein in diesem Jahr schon über 200 der völlig rechtlosen Einwohner:innen umgebracht hat, ohne dass dies irgendwelche Konsequenzen gehabt oder zu irgendeiner Art von Distanzierung der westlichen Medienwelt geführt hätte.


Aber die Hamas ist nicht der Gegenpol zum israelischen Kolonialregime. Sie steht in einem symbiotischen Verhältnis dazu und hat an seiner Beendigung nicht das geringste Interesse. Jede von der Hamas beschlossene neue Gewalteskalation hat nicht die Überwindung des israelischen Kolonialismus zum Ziel, sondern die Konservierung des Status quo. Die in regelmäßigen Abständen von ihr inszenierten Gewaltwellen sind keine spontanen Aktionen der Wut von normalen Palästinenser:innen, die aus Empörung über konkrete israelische Verbrechen zu den Waffen greifen. Es sind lange im voraus kaltblütig geplante, militärische Aktionen.

Die Hamas ist keine antikoloniale Widerstandskraft. Der echte linke, sozialistisch orientierte antikoloniale Widerstand in Palästina, der bis in die 80er Jahre absolut dominant war, wurde in den 80er, 90er Jahren von der Hamas im Gazastreifen matt gesetzt, und zwar mit aktiver Unterstützung des israelischen Staates. Die Hamas startete als eine Gangsterbande von Kollaborateuren, die von der israelischen Regierung und Armee bewusst gefördert wurde, um die als viel gefährlicher betrachtete linke, antikoloniale palästinensische Widerstandsbewegung zu zermalmen.

Das ist gelungen. Dank der Partnerschaft Hamas-Israel spielt die Linke im Gazastreifen heute keine Rolle mehr, ist der Gazastreifen quasi Privatbesitz dieser Bande geworden, die das Gebiet als einen Selbstbedienungsladen betrachtet. Für sie ist die Hauptsache, dass sie die Herrschaft über das Territorium bewahren, innerhalb dessen sie kleine Fürsten sind.

Natürlich wissen die Israelis, dass die Hamas für die von der gesamten NATO hochgerüstete israelische High-Tech-Armee nicht den Hauch einer militärischen Bedrohung darstellt und niemals darstellen wird, dass es niemals irgendeine Art von militärischem Sieg über die israelischen Streitkräfte geben wird. Und die Hamas weiß, dass ihr Kurs einer theokratischen Mafia in einem geeinten Palästina niemals eine Chance hätte sich durchzusetzen; die Einigung Palästinas wäre ihr politisches Ende und damit das Ende ihrer fürstlichen Herrlichkeit im Gazastreifen. Trotzdem braucht die Hamas regelmäßig Bilder von gen Israel fliegenden Raketen und blutüberströmten palästinensischen Kindern, um ihre Herrschaft zu legitimieren und ihre Basis in Gaza zu sichern.


Hamas muss nämlich einen Spagat vollführen und sich neben ihrem korrupten Klientelismus als die radikalste und energischste Kraft des Widerstands gegen den israelischen Kolonialismus und seine Verbrechen präsentieren. Die Kanalisierung der allgemeinen Abscheu gegen Israels Verbrechen ist die Hauptstütze der verbleibenden Attraktivität der Hamas. Dass auf die Ermordung jedes israelischen Zivilisten zuverlässig die Ermordung von zehn oder hundert palästinensischen Zivilisten folgt, ist dabei wurscht, wenn nicht sogar kalkuliert. Denn natürlich weiß die Hamas, dass die israelischen Streitkräfte drakonisch zurückschlagen und viel, viel mehr Palästinenser:innen umbringen werden, als die Hamas jemals an Israelis umbringen konnte. Menschen, die mit ihren Aktionen nichts zu tun haben und die niemand gefragt hat, ob sie darin involviert werden wollen.

Dabei geht die Hamas eine Symbiose mit der israelischen militaristischen Rechten ein. Wie sollte man auch die Notwendigkeit einer permanenten Hochrüstung und Militarisierung Israels begründen, wenn es an den Grenzen zum Gazastreifen immer ruhig und friedlich wäre? Nie war ein von der Hamas gelieferter Vorwand für einen zünftigen, militärisch vollkommen risikofreien Kleinkrieg so herzlich willkommen wie jetzt, wo die israelische Rechte mit ihrer Verfassungsreform gerade massiv den demokratischen Charakter des israelischen Staates untergräbt und das Land an den Rand einer Bürgerkriegsstimmung manövriert hat.

Die Aktion der Hamas dürfte Netanyahu und der israelischen radikalen Rechten auf Jahre hin wieder fest die Macht gesichert und verhindert haben, dass der Konflikt um die Verfassungsreform zu einer Destabilisierung des israelischen Staates führt. Die israelische Kolonialpolitik wird sich auf Jahre hinaus befestigen und verschärfen.


Weil die israelische Rechte die Hamas genauso braucht wie umgekehrt, wurde sie bei keinem der bisherigen zig Vergeltungsschläge liquidiert, obwohl es für die israelischen Streitkräfte natürlich kein großes Problem wäre. Schließlich, was sollte man nach der Liquidierung der Hamas auch mit dem Gazastreifen anfangen? Man kann nicht gut seine gesamte Bevölkerung umbringen und dann ein neues Besatzungsregime mit jahrelang Guerillakriegen errichten, das ist in dem dichten urbanen Gelände wirklich keine Option, die innenpolitisch die Popularität der Regierung steigern würde.

Die Aktion der Hamas ist kein Akt eines heroischen antikolonialen Widerstands, sie ist ein zynisches Machtmanöver. Sie ist ein Geschenk des Himmels für Netanjahu, seine faschistoiden Koalitionspartner und die chauvinistischen Hardliner in der israelischen Armee. Sie ist zu einem guten Teil keine militärische Aktion, sondern ein Mord- und Plünderzug, der keinen Unterschied macht zwischen israelischen Besatzungssoldaten und zufälligen Zivilisten; der nur Juden sieht, die alle miteinander gleichermaßen den Tod verdient hätten. Sie ist ein vollkommen aussichts- und sinnloses Unternehmen. Die Hamas ist das größte Hindernis der palästinensischen Befreiung.

Der Artikel ist eine stark gekürzte Niederschrift eines Youtubebeitrags vom selben Autor am 7. Oktober 2023 https://www.youtube.com/watch?v=VWwdWlpTgck
Der Autor lebt und arbeitet als kommunistischer Blogger und Youtuber in Wien.

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2 Kommentare
  • 31.10.2023 um 11:51 Uhr, Hanspeter Gysin sagt:

    Ich frage mich, wie die Redaktion einer linken Zeitschrift die ich bisher sehr geschätzt habe, dazu kommt, einen Artikel wie den von Herrn Lehr zu publizieren. Nichts gegen Kritik am palästinensischen Widerstand gegen die Besatzungsmacht, aber die einzigen Kraft die überhaupt in der Lage ist, dem israelischen Besatzungsterror etwas entgegenzusetzen auf diese Art zu delegitimieren halte ich für falsch. Dabei geht es nicht um die Hamas, die zweifellos keine vertrauenswürdige Gestalt ist, es geht um die Menschen, junge Männer im Gazastreifen, die mit solcher Polemik dazu verurteilt werden, untätig ihr Elend seit ihrer Jugend und wohl bis an ihr Lebensende, zu erdulden.

    Welche Wahl haben diese Leute? Gibt es in Palästina, unter den von den Zionisten verursachten Bedingungen auch nur eine klitzekleine Alternative zur Hamas, nachdem alles nur schlimmer geworden ist, die Diplomatie in die Sackgasse geführt wurde, der unbewaffnete Widerstand im Blut erstickt worden ist? 

    Der bewaffnete palästinensische Widerstand und sein terroristisches Vorgehen sind nicht die Ursache, sondern das Resultat der mörderischen, ja genozidalen Besatzungspolitik Israels und nicht umgekehrt.

    Mit bestem Dank und freundlichem Gruss

    Hanspeter Gysin

  • 31.10.2023 um 12:11 Uhr, Herausgeber sagt:

    Ich halte den Artikel von Fabian Lehr für äusserst problematisch. Er ist voller Passagen, die den genozidalen Rachefeldzug der israelischen Regierung und Armee geradezu legitimieren und den sog. Israel-Freunden nach dem Mund reden:

    ”Jede von der Hamas beschlossene neue Gewaltaktion hat nicht die Überwindung des israelischen Kolonialismus zum Ziel, sondern die Konservierung des status quo.” ”Die in regelmäßigen Abständen von ihr inszenierten Gewaltwellen sind keine spontanen Aktionen der Wut von normalen PalästinenserInnen …” usw. (Hervorhebung von mir, H.D.); ”Gazastreifen quasi Privatbesitz dieser Bande”, ”theokratische Mafia”, der Ausbruch vom 7. Oktober war ”keine militärische Aktion, sondern ein Mord- und Plünderzug” usw. Wer hat in den letzten Jahren ständig ”Gewaltexzesse” losgetreten? Kamen die aus Gaza, was war das und in welchem Verhältnis standen sie zu den ”Vergeltungsschlägen” Israels? Sind etwa die hunderte ziviler Opfer – Tote und Verstümmelte – der friedlichen Rückkehrmärsche an die Demarkationslinie schon vergessen, die von israelischen Scharfschützen zu verantworten sind?

    Für Netanjahu handelt es sich um den Krieg zwischen ”Zivilisation und Barbarei”. Er ist der oberste Repräsentant eines kolonialen Siedler- und Apartheidstaats, der sich buchstäblich auf den Knochen eines unterdrückten Volkes erhebt. Lehr bringt es auch noch fertig, von Israel als einem ”demokratischen Staat” zu sprechen. Netanjahu und seine Regierungen haben das kleine Gaza und seine 2,3 Millionen seit 16 Jahren eingekesselten, verarmten und völlig perspektivlosen Menschen fünf Mal schwer angreifen und bombardieren lassen.

    Jeder Angriff war – als Antwort auf Widerstandsaktionen aus Gaza – vollkommen unverhältnismässig, völkerrechtswidrig und in der Konsequenz völkermörderisch. Der derzeitige Bombenterror, der bereits fast 60 % der Wohnungen zerstört hat, nicht vor Krankenhäusern, Schulen und jeder Art ziviler Infrastruktur und Versorgung halt macht, ist der vorläufige Höhepunkt einer von der zionistischen Regierung und der Armeeführung betriebenen Gewaltorgie (”Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und das bestimmt unser Handeln”) die nur ein Ziel hat: die Vertreibung und Vernichtung palästinensischen Lebens in Gaza und in ihrem Windschatten die weitere Vertreibung und Annexion im Westjordanland durch Armee und faschistische Siedler. Das alles wird kaum verhüllt von den USA als Hauptwaffenlieferant und der EU unterstützt.

    Ich teile auch nicht die Einschätzung von F. Lehr, dass ”der von der Hamas gelieferte Vorwand für einen zukünftigen, militärisch vollkommen risikofreien Kleinkrieg” so willkommen sei für die israelische Rechte. Wir haben es schon jetzt nicht mehr mit einem ”Kleinkrieg”, sondern mit einem Vernichtungskrieg zu tun. Die enormen Kosten dieses Krieges für Israel, das Überleben Netanjahus und seiner Regierung müssten noch gesondert erörtert werden. Ich bin der Meinung, dass Lehr auch hier falsch liegt. Dafür fehlt mir aber hier der Platz.

    Die zentralen Akteure, ihre unerhörten Gewaltexzesse und ihre Komplizenschaft sollten im Mittelpunkt der SOZ-Berichte und Kommentare und praktischer linker Politik stehen und nicht die Auseinandersetzung mit der jeweiligen politischen Führung eines kolonisierten Volkes. Die Kritik der Hamas, deren politische Ausrichtung und Methoden nicht die unseren sind, ist sicher erforderlich, aber sie ist angesichts des Grundkonflikts nachgeordnet. In dem Grundkonflikt zwischen weit überlegener Kolonialmacht und einer unterdrückten Nation bzw. antikolonialer Erhebung kann es kein ”einerseits – andererseits” geben.

    Es ist unzulässig und politisch falsch, die Vorgeschichte abzuschneiden, die zu antikolonialen Ausbrüchen führen kann, die wir als grässlich empfinden. Das galt für das revolutionäre Russland, für Algerien, Südafrika und andere Länder. Es ist unerlässlich, die Ursachen und Verantwortung dafür blosszustellen und für Freiheit und Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes einzutreten. Nur in einem solchen Prozess besteht die Chance, dass sich eine linke Massenführung entwickelt.
    Hermann Dierkes


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