Eine neue Gewerkschaftsführung bringt neuen Wind
von Luis Feliz Leon und Jane Slaughter
Der allererste gleichzeitige Streik bei den drei großen Automobilherstellern – General Motors, Ford und Stellantis* – begann am 15.September, als 13000 Beschäftigte drei Montagewerke in Michigan, Ohio und Missouri bestreikten. Bei den Big 3 sind 146000 Mitglieder der Automobilarbeitergewerkschaft (UAW) beschäftigt.
Die UAW nennt ihre Strategie »Aufstehstreik«, eine Anspielung auf den Sitzstreik in Flint (Michigan) 1936/37, der zur Gründung der Gewerkschaft beitrug.
Der Schuss vor den Bug kam zwei Stunden vor Mitternacht über ein sehr kurzes Facebook-Live-Video, in dem UAW-Präsident Shawn Fain die bestreikten Werke bekannt gab: der Toledo Assembly Complex von Stellantis in Ohio, das Wentzville Assembly Center von GM in der Nähe von St.Louis und die Endmontage- und Lackierabteilungen im Michigan Assembly Plant von Ford, westlich von Detroit. In diesen Werken werden hochprofitable Geländewagen und Lastwagen hergestellt.
Fain erläuterte die Eskalationsstrategie der Gewerkschaft. Sie will zunächst nur einige Werke ins Visier nehmen und die Unternehmen über weitere Schritte im Ungewissen lassen, um ihre Entschlossenheit zu demonstrieren. Weitere Maßnahmen sind jederzeit möglich, aber die Unternehmen sollen nicht in der Lage sein vorherzusagen, wo.
Wenige Stunden vor Ablauf der Frist berichtete Chris Falzone, der in der Abendschicht im Montagewerk Toledo arbeitet, von der Stimmung im Werk. »Ich habe von der Lackiererei gehört, dass sie die Lackierabteilung auf der Gladiator- und Wrangler-Seite im Falle eines Streiks leeren.« Er ging durch die Werkshalle und verteilte Flugblätter darüber, was passiert, wenn sie um Mitternacht weiterhin unter einem ausgelaufenen Vertrag arbeiten.
Währenddessen warteten Arbeiter der Tagschicht wie Auston Gore, seit zwölf Jahren am Fließband und Streikführer, zu Hause. »Wir sitzen alle auf heißen Kohlen«, sagte Gore. »Normalerweise würde ich jetzt ins Bett gehen. Aber ich bleibe lange auf.«
Die Beschäftigten von Toledo Assembly hoffen darauf, für einen Streik ausgewählt zu werden, da sie davon ausgehen, dass die Unternehmensleitung eine Terrorkampagne gegen die Beschäftigten führen wird, die in den Betrieben bleiben. »Das Unternehmen tut so, als ob es sich um seine Beschäftigten kümmert und sagt uns, dass wir eine große Familie sind. In der Zwischenzeit lassen sie ihre Vorgesetzten herumlaufen und uns wegen der kleinsten Dinge anprangern, wenn wir unter einem abgelaufenen Vertrag arbeiten. Wir fühlen uns wie ungeschützte Beute.«
Alle Mitarbeiter der Michigan Assembly verfolgten den Livestream von Fain um 22 Uhr und schrien, als sie den Namen ihrer Fabrik hörten, berichtete Brandon Szcesniak. Die Schicht sollte bis 2.30 Uhr morgens dauern, aber die Geschäftsleiung forderte alle auf, um 23 Uhr zu gehen. Brandon ist 21 Jahre alt und arbeitet in dem Werk, seit er die High School abgeschlossen hat. Er verdient 19,10 Dollar pro Stunde. Er würde gern eine Familie gründen, aber es dauert acht Jahre, bis er das höchste Gehalt erreicht, da wäre er fast 30. Er glaubt, dass ein Streik notwendig ist. »Die Leute sind wütend«, sagte er. »Es ist wie eine Drehtür. Es ist keine Karriere mehr, es ist ein Job. Sie wollen, dass wir Fords kaufen, aber wie können wir bei diesem Lohn einen Ford kaufen?«
Diejenigen, die noch nicht streiken werden, hat die Gewerkschaft schnell über ihre Rechte informiert, wenn sie unter einem auslaufenden Vertrag arbeiten. In fast jeder Hinsicht sind die Unternehmen verpflichtet, den Status quo weiterzuführen, das gilt auch für den Kündigungsschutz. Eine Ausnahme gibt es: Ohne eine Streikverbotsklausel können die Beschäftigten jederzeit streiken, und die Unternehmen können sie auch aussperren.
Unabhängig davon, ob sie streiken oder nicht, zeigen die Beschäftigten einiger großer Werke, dass sie Druck auf das Management ausüben wollen. Bei GM Spring Hill in Tennessee »sagte unser Betriebsleiter, er wolle nicht, dass jemand Überstunden nach dem Stichtag akzeptiert«, so der langjährige Produktionsarbeiter Kenneth Larew. »Es ist mindestens 15 Jahre her, dass Gewerkschafter eine Verweigerung von Überstunden koordiniert haben.«
Derartige Maßnahmen könnten für viele Big-3-Betriebe einen schweren Schlag bedeuten, da sie aufgrund der hohen Fluktuationsrate und der sinkenden Reallöhne in den letzten Jahren auf zahlreiche Überstunden angewiesen sind.
Mutige Forderungen
Nach jahrzehntelangem Mitläufertum, wodurch Löhne und Arbeitsbedingungen ausgehöhlt wurden, hat die UAW unter ihrer neu gewählten Reformführung mutige Forderungen aufgestellt.
Die Gewerkschaft fordert 40 Prozent Lohnerhöhung und die Abschaffung des Stufenmodells. Produktionsarbeiter, die seit 2007 eingestellt wurden, befinden sich dauerhaft in einer niedrigeren Lohngruppe, in der sie auf Renten- und Krankenversicherungsleistungen verzichten. Außerdem gibt es mehrere untere Lohngruppen, etwa in den Vertriebszentren für Ersatzteile und in den Abteilungen, die Komponenten für Elektrofahrzeuge herstellen.
Die Beschäftigten fordern außerdem eine kürzere Wochenarbeitszeit, die Wiedereinführung der Anpassung der Löhne an die Inflation und die Umwandlung von sog. Zeitarbeitern – die jahrelang in dieser Kategorie bleiben können – in Festangestellte nach 90 Tagen.
Da die Automobilindustrie im Zuge des Übergangs von Benzin- zu Elektrofahrzeugen seismische Veränderungen erfährt, fordern die Beschäftigten zudem Arbeitsplatzsicherheit: das Recht zu streiken, wenn ein Werk geschlossen werden soll, und ein Programm zum Schutz der Familien, wonach Entlassene für gemeinnützige Arbeit bezahlt werden könnten.
Als Reaktion auf den Druck der Gewerkschaft haben alle drei Unternehmen angeboten, die Zeit, die Vollzeitbeschäftigte mit langer Betriebszugehörigkeit benötigen, um den höchsten Lohn zu erreichen, von acht auf vier Jahre zu halbieren. Das ist immer noch weit vom Vorschlag der Gewerkschaft entfernt, der 90 Tage bis zum Höchstsatz vorsieht.
Ford hat vorgeschlagen, alle derzeitigen Zeitarbeiter nach 90 Tagen in Vollzeitarbeiter umzuwandeln – künftige Zeitarbeiter jedoch nicht. GM und Stellantis haben vorgeschlagen, den Mindestlohn für Zeitarbeiter von derzeit 16,67 Dollar bzw. 15,68 Dollar auf 20 Dollar pro Stunde anzuheben, aber Stellantis hat keinen Weg zu einer Vollzeitbeschäftigung für Zeitarbeiter vorgeschlagen; bei GM sollen sie derzeit nach zwei Jahren umgestellt werden, aber das ist oft nicht Realität.
Die Unternehmen haben außerdem Erhöhungen zwischen 17,5 und 20 Prozent über vier Jahre vorgeschlagen. Bei den Vorschlägen der Gewerkschaft zur Arbeitsplatzsicherheit haben sie sich nicht bewegt.
»Alles in allem sehen wir Bewegung bei den Unternehmen«, sagte Fain. »Aber sie sind immer noch nicht bereit, Erhöhungen zuzustimmen, die die Inflation zusätzlich zu den seit Jahrzehnten sinkenden Löhnen ausgleichen würden. Und ihre Vorschläge spiegeln nicht die enormen Gewinne wider, die wir für diese Unternehmen erwirtschaftet haben.«
Eskalationsstrategie
Die Eskalationsstrategie der Gewerkschaft unterscheidet diese Verhandlungsrunde deutlich von der 2019, als 46000 Beschäftigte von GM 40 Tage lang streikten. Der Gewinn des Unternehmens wurde damals um 3,6 Milliarden Dollar geschmälert, aber die Beschäftigten hatten das Gefühl, wenig gewonnen zu haben. Die Gewerkschaftsführer waren damals bereit, einen billigen Vergleich zu schließen.
Diesmal sieht die Gewerkschaftsführung ganz anders aus und hat sich höhere Ziele gesetzt. Fain und andere Reformer wurden bei der ersten Direktwahl von Spitzenpositionen in der Gewerkschaft mit dem Versprechen ins Amt gewählt, mehr Transparenz und Militanz herzustellen. Fain kandidierte auf der Liste Members United, die von der Reformbewegung Unite All Workers for Democracy unterstützt wurde. Er trat sein Amt im März dieses Jahres an.
Seit Beginn der Verhandlungen im Juli haben die neu gewählten Reformführer der UAW die Automobilhersteller mit einem aggressiven und sehr öffentlichen Verhandlungsansatz aus dem Gleichgewicht gebracht, was durch Fains Weigerung symbolisiert wurde, sich an der traditionellen Handschlagszeremonie mit den Unternehmensleitern zum Auftakt der Verhandlungen zu beteiligen; stattdessen ging er hinaus, um die Mitglieder an den Werkstoren zu begrüßen.
»Ich sage euch, dass ich kein Problem habe mit der Entscheidung zu streiken, wenn es sein muss, weil ich weiß, dass wir in diesem Kampf auf der richtigen Seite stehen«, sagte Fain vor mehr als 30000 Zuschauern auf Facebook Live. »Es ist ein Kampf der Arbeiterklasse gegen die Reichen, der Besitzenden gegen die Habenichtse, der Milliardärsklasse gegen alle anderen.« Sein Vortrag war eine Mischung aus Sportanalogien, Bibelversen und Lehren aus der Tradition der klassenkämpferischen Gewerkschaftsbewegung.
»In den letzten 40 Jahren hat sich die Klasse der Milliardäre alles genommen und alle anderen um die Reste kämpfen lassen«, sagte Fain. »Wir sind nicht das Problem. Die Gier der Unternehmen ist das Problem.«
Streikende Beschäftigte erhalten ein Streikgeld von 500 Dollar pro Woche, das aus dem 825 Millionen Dollar umfassenden Streikfonds der Gewerkschaft gezahlt wird. Die Gewerkschaft hat außerdem erklärt, dass sie die Krankenversicherungsprämien der Streikenden übernehmen wird.
Fahrzeugspediteure (Teamsters), die Fahrzeuge für die Big 3 ausliefern, haben geschworen, sich während des Streiks zu weigern, Autohäuser zu beliefern. »Wir unterstützen die UAW-Beschäftigten und die Positionen von Shawn Fain zu 100 Prozent«, sagte Kevin Moore, Präsident des Teamsters Locals 299 in Detroit, gegenüber der Detroit Free Press. »Unsere Teamsters werden die Streikgrenzen nicht überschreiten.«
von Luis Feliz Leon, Jane Slaughter, 15.9.2023
Luis Feliz Leon ist Autor und Organisator bei Labor Notes; Jane Slaughter ist ehemalige Redakteurin von Labor Notes und Mitautorin von Secrets of a Successful Organizer (www.labornotes.org).
*Stellantis N.V. mit Sitz im niederländischen Hoofddorp ist im Januar 2021 als Holding aus der Fusion der Automobilkonzerne Fiat Chrysler Automobiles (FCA) und der Peugeot S.A. hervorgegangen.
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