Erinnerungskultur und Arbeitskämpfe von Migrant:innen
von Ayse Tekin
In diesem Jahr wurde mit zahlreichen Veranstaltungen und Publikationen an den Kölner Ford-Streik 1973 und andere Arbeitskämpfe von Migrant:innen erinnert. So gut und so umfangreich diese Erinnerungsaktionen auch waren, stellt sich die Frage dennoch, warum diese Arbeitskämpfe nicht in das kollektive Gedächtnis der Gesellschaft, der Migrationsgesellschaft und auch nicht in die Gewerkschaftsgeschichte als ein Meilenstein für einen Wechsel der Perspektive eingegangen sind.
Die Streiks des Jahres 1973 hatten eine Vorgeschichte: die »wilden Streiks«, die 1969 anfingen und 1973 ihren Höhepunkt erreichten. Sie waren eine Reaktion der Migrant:innen auf die Zustände in den Betrieben und ihre schlechte Wohnsituation. Die Rede ist von mindestens 275000 streikenden Arbeiter:innen und Angestellten in 335 Betrieben.
Die Reaktionen in den Betrieben auf diese Arbeitskämpfe waren auf Seiten der etablierten Arbeiterschaft, von Betriebsrat und Gewerkschaft gemischt. Es gab Spaltungen zwischen den deutschen und den migrantischen Arbeiter:innen, aber auch erfolgreiche Solidarisierungen auf der örtlichen Ebene. Letztere führten meistens zum Erfolg oder zumindest nicht, wie bei Ford, zu einer »Niederlage für alle Seiten«. Die spontanen Streiks konnten auch als Auswirkung der 68er Bewegung auf die Betriebe verstanden werden, aber diesen Zeitgeist haben die deutschen Gewerkschaften damals kaum verstanden und auch nicht genutzt, viel mehr fühlten sie sich eher als Ordnungsmacht.
In den Anwerbeabkommen mit den Ländern, aus denen die Migrant:innen kamen, war angemerkt, dass sie nicht schlechter bezahlt werden durften als die einheimischen Arbeiter:innen; für die Unterkunft sollten die Unternehmen sorgen. Was die Migrant:innen dann allerdings vor Ort fanden, waren miserable Sammelunterkünfte, Leichtlohngruppen und Akkordarbeit.
Da die Kontrollen dieser Akkordsysteme von deutschen Vorarbeitern durchgeführt und dem Unternehmen mitgeteilt wurden, müsste die Frage, wer hier Lohndrücker war, umgekehrt gestellt werden, als die Gewerkschaften im allgemeinen befürchteten und behaupteten. Immer stärker leisteten Migrant:innen Widerstand gegen die Arbeitsbedingungen und die Bevormundung und organisierten sich gewerkschaftlich und politisch.
Die Fließbandarbeit und das Akkordsystem wurden genauso kritisiert wie die Existenz der unteren Lohngruppen, und es wurde ihre Abschaffung gefordert, da vor allem Migrant:innen in diesen Lohngruppen beschäftigt waren.
Diese Streiks waren überall dort erfolgreich, wo sich nicht nur deutsche Facharbeiter:innen, sondern auch die Mehrheit im Betriebsrat und in der lokalen Vertretung der IG Metall solidarisch verhielten – wie z.B. bei Pierburg in Neuss vom 13. bis 20.August 1973.
Das krasse Gegenbeispiel war der Streik bei John Deere in Mannheim vom 22. bis zum 29.Mai 1973. Er bildete mit 2500 Streikenden und acht Tagen Dauer den Höhepunkt der regionalen Streikwelle, wurde jedoch am 30.Mai mit brutaler Gewalt zerschlagen: »Einzelne Ausländer wurden herausgegriffen, verprügelt und durchs Werksgelände gejagt. Gleichzeitig ging aber auch die ›Säuberung‹ des Betriebs von vielen als oppositionell bekannten Kollegen vor sich, die ebenfalls mit Gewalt von Greiftrupps aus dem Betrieb geworfen wurden. Anschließend beschimpfte die Direktion die Streikenden als Anarchisten, Ausländermob, Kommunisten usw.«
Sechs Tage Ford
Vom 24. bis 30.August 1973 streikten auf dem Ford-Werksgelände in Köln-Niehl türkische, italienische und auch links organisierte deutsche Arbeiter:innen. Anlass für die Arbeitsniederlegung war die Entlassung von 300 türkischen Arbeitskräften, die verspätet aus dem vierwöchigen Sommerurlaub zurückgekehrt waren. Zuvor war es möglich gewesen, den Arbeitsausfall durch Zusatzschichten nachzuholen, nun wurde den Betroffenen stattdessen fristlos gekündigt.
Die daraufhin entstehenden Proteste und eine Betriebsbesetzung wurden, begleitet von rassistischer Pressearbeit, von der Polizei, leitenden Angestellten und Vorgesetzten gewaltsam zerschlagen. Es gibt detaillierte Beschreibungen zu den Geschehnissen bei Ford, sie sind nach Ablauf der 30jährigen Verjährungsfrist für bestimmte Archive nochmal vielfältiger geworden. Aber sie haben nichts daran geändert, wie das Geschehen im kollektiven Gedächtnis hängen geblieben ist.
Der heutige Kölner DGB-Vorsitzende Wittich Rossmann urteilte jüngst in der Zeitschrift Sozialismus über den Ford-Streik, dort sei »ein gemeinsamer solidarischer und erfolgreicher Kampf desaströs misslungen«, am Ende stand »ein tief gespaltener Betriebsrat mit erheblichem Legitimationsverlust in der Belegschaft und heftigen innergewerkschaftlichen Konflikten«. Dennoch sollten aus dem Streik Lehren gezogen werden.
Nach der Zerschlagung der Bewegung hat der Frankfurter IG-Metall-Vorstand im März 1974 den Kölner Vorstand aufgelöst, seine Geschäftsführer aus der Gewerkschaft ausgeschlossen und drei kommissarische Bevollmächtigte eingesetzt. Rossmann schreibt, dass »wenige Wochen später die IG Metall die Humanisierung der Arbeit auf die Tagesordnung gesetzt hat«.
Sechs Wochen Urlaub, was den Migrant:innen den damals wichtigen Heimatbesuch erleichtert hat, wurden erst 1979/80 erkämpft. Gleichen Lohn für gleiche Arbeit gibt es immer noch nicht. Nur bedienen sich die Unternehmen heute ungleich raffinierterer Methoden für die ungleiche Bezahlung von Deutschen und Migrant:innen.
Das kollektive Gedächtnis
Warum sollte der Ford-Streik trotz allem als eine erfolgreiche Protestaktion in Erinnerung bleiben?
Erstens rückt er, wie auch die anderen Streiks aus dieser Zeit, das Bild von den passiven Migrant:innen zurecht, was wichtig für die kommenden Generationen ist, die heute als »migrantisierte Personen« beschrieben werden.
Zweitens sollten die Gewerkschaften sie positiv ins Gedächtnis hieven und sich für ihre damalige inakzeptable, arrogante Nichtreaktion oder gar ihr aktives Verhindern der Proteste entschuldigen.
Drittens muss die Gewerkschaftsbewegung anerkennen, dass solche eigenständigen Arbeitsniederlegungen nicht immer in das normale Tarifkonzept passen und manchmal auch für andere Verhandlungen notwendig und nützlich sind – auch heute!
Was passiert, wenn die etablierten Werkzeuge und Strukturen, wie Tarifvertragsverhandlungen, Vertrauensleute der Gewerkschaften und Betriebsrat nicht existieren? In einigen Fällen, z.B. bei Amazon, hat Ver.di darauf eine Antwort gefunden, Beschäftigte organisiert und immer wieder für Verbesserungen gestreikt.
Bei Betrieben wie Gorillas und anderen StartUps aus der Plattformökonomie klappt es bisher nicht. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die Fluktuation bei den Beschäftigten sehr hoch ist. Diese Arbeitsplätze brauchen andere Antworten. Was kann einer Gewerkschaft Besseres passieren, als wenn die Beschäftigten bereit sind, für eine Veränderung ihrer Arbeitsbedingungen in Aktion zu treten?
In diesem Sinne: Erinnern bedeutet Auseinandersetzung, Aufarbeitung verlangt Veränderung.
Zum Weiterlesen:
»Wilder Streik – das ist Revolution«. Der Streik der Arbeiterinnen bei Pierburg in Neuss 1973. Hrsg. Dieter Braeg. Berlin: Die Buchmacherei, 2012. 178 S.
Erwitte. »Wir halten den Betrieb besetzt«. Texte und Dokumente zur Betriebsbesetzung der Zementfabrik Seibel & Söhne in Erwitte im Jahre 1975. Hrsg. Dieter Braeg. Berlin: Die Buchmacherei, 2015. 257 S.
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