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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2023

1983, 2003, 2023
von Ingo Schmidt

Weltwirtschaftskrise 2008: Die anderen hat’s schwerer erwischt: Eurokrise in Griechenland – XXL-Aufschwung in Deutschland; Corona-Rezession – Staatsknete federt die Krise ab; Krieg in der Ukraine – Sondervermögen für Aufrüstung; Kalter Krieg mit China – Milliardensubventionen für Computerchips made in Germany. Und jetzt wieder Rezession und Forderungen nach einer Agenda 2030.

1983: ›Geistig-moralische Wende‹ und NATO-Doppelbeschluss
Wie heute bestimmten zu Beginn der 80er Jahre De-Industrialisierung, Energiepreise und Inflation neben den Dauerthemen Staatsschulden und Steuern die wirtschafts- und sozialpolitischen Debatten. Wie heute standen diese Debatten im Schatten verschärfter internationaler Konflikte. Was heute der Schwenk von der Globalisierung zur Konfrontation des Westens mit China und Russland ist, war damals die Wende von der sozialliberalen Entspannungspolitik zur Wiederaufnahme des Kalten Krieges gegen die Sowjetunion.
Diese außenpolitische Wende war auch eine Reaktion auf die ökonomischen und politischen Krisen der 70er Jahre. Für die Machteliten der USA ging es darum, ihre nach dem Ende des Bretton-Woods-Systems, der Niederlage in Vietnam und der iranischen Revolution zweifelhaft gewordene Führungsrolle wiederherzustellen und die Kapitalakkumulation nach dem Ende des Nachkriegsaufschwungs wieder in Gang zu setzen. Die tonangebenden Kräfte der deutschen Bourgeoisie sahen im Export weiterhin die treibende Kraft der Akkumulation. Für sie ging es darum, ihre Rolle als Vorposten und Stellvertreter der USA zu konsolidieren und sich möglichst große Anteile am Weltmarkt zu sichern.
Dazu brauchte es gute Beziehungen zu den USA, denn auch nach dem Ende der dollargebundenen Wechselkurse war schnell klar, dass nur Washington und Wall Street dem Weltmarkt eine neue, akkumulationsfördernde Geschäftsgrundlage verschaffen könnten. Dafür war Helmut Schmidt der richtige Mann. Aber leider in der falschen Partei. In der SPD gab es damals eine Linke, die zwar nicht mehrheitsfähig und zudem intern zerstritten, aber stark genug war, sie als unsicheren Kantonisten erscheinen zu lassen.
Das westdeutsche Wirtschaftswunder beruhte auf niedrigen Löhnen (eine Erbschaft der Nazidiktatur), einem günstigen Wechselkurs und billigem Öl – Wettbewerbsvorteile, die die USA über das Bretton-Woods-System und die Kontrolle der Ölförderländer im Mittleren Osten gewährten.
Nach Jahren des Aufschwungs kam es jedoch zu militanten Arbeitskämpfen, die den Lohnabstand zwischen den USA und der BRD immer weiter verringerten – nicht zuletzt, weil die stärker in den Weltmarkt integrierte BRD-Wirtschaft eine Weitergabe von Lohnsteigerungen an die Preise begrenzte. Steigende Exporte setzten die D-Mark zudem unter Aufwertungsdruck. Die beiden Ölpreisschocks der 70er Jahre untergruben auch das dritte Standbein des Wirtschaftswunders.
Trotz aller sonstigen Streitigkeiten war sich die SPD-Linke weitgehend einig, dass die Krise der exportgetriebenen Nachkriegsprosperität durch den Übergang zu einer stärker auf inländischen Massenkonsum und öffentliche Dienste orientierten Wirtschaft überwunden werden sollte. Industriepolitik bis hin zu staatlichen Preiskontrollen und Investitionslenkung sollten den Übergang bewerkstelligen. Unter dem Slogan »Modell Deutschland« suchte Schmidt, die interventionistisch gesinnte Parteilinke für eine Regierungspolitik zu gewinnen, die sich in Richtung Haushaltskonsolidierung und Sozialabbau bewegte.
Der Bourgeoisie ging das aber nicht weit genug. Die FDP vollzog die Wende zu Kohls CDU. Sie wurde im März 1983 von der Wählerschaft mit großer Mehrheit bestätigt.

2003: Neoliberale Wende der SPD und Irakkrieg
Als Kohl erstmals zum Kanzler gewählt wurde, war die kurze Periode steigender Löhne und Ölpreise samt der damit verbundenen inflationären Verteilungskämpfe bereits wieder vorbei. Vorbei war auch die während des Nachkriegsaufschwungs zur Gewohnheit gewordene Vollbeschäftigung. Unter dem Druck steigender Arbeitslosigkeit, Importkonkurrenz und Standortverlagerungen blieben die Löhne fortan hinter der Produktivitätsentwicklung zurück. Hohe Profitspannen ließen sich nun ohne Preiserhöhungen realisieren. Die Erschließung des Nordseeöls und die Schwächung der OPEC im Gefolge des Krieges zwischen Iran und Irak führten zu einem Verfall der Ölpreise.
Westdeutschland war wieder Juniorpartner der USA und Exportweltmeister. Bis zur Wende in Ostdeutschland. Nach dem Beitritt der neuen Länder zur BRD kam es zu einer binnenorientierten Entwicklung, die sich deutlich von jener unterschied, die der Parteilinken in der SPD oder den auf ökologischen Umbau fokussierten Grünen vorschwebte. Statt politisch gesteuerter Umlenkung von Arbeit und Kapital in neue, idealerweise ressourcensparende Industrien und öffentliche Dienste sowie einer Umverteilung von unten nach oben kam es zu einer staatlich alimentierten Stilllegung der alten DDR-Industrien.
In den alten Ländern waren Stahl, Kohle und Schiffbau, die Fertigung von Textilien, elektrischen und optischen Geräten geschrumpft bzw. zu spezialisierten Nischenproduzenten geworden. In den neuen Ländern machten deutsch-deutsche Währungsunion und Treuhand alles platt. Arbeitslosenquoten von fast 20 Prozent in den späten 90er Jahren waren ein Zeugnis ökonomischer Depression statt der von Kohl versprochenen blühenden Landschaften.
Anders als in der Depression der 1930er Jahre wurde die Massenarbeitslosigkeit in den neuen Ländern sozialpolitisch aufgefangen. Nicht aus der Portokasse, aus der Kohl die deutsche Einheit finanzieren wollte, sondern durch Transferzahlungen aus den alten Ländern und steigende Staatsschulden. Die Hoffnung, eine computergestützte Prosperität lasse die Steuereinnahmen sprudeln und ermögliche einen problemlosen Abbau der Schulden, platzte mit der dot.com-Spekulation im Frühjahr 2000.
Kohls Nachfolger Gerhard Schröder musste sich nun mit den Forderungen der Bourgeoisie auseinandersetzen, den Standort Deutschland wieder wettbewerbsfähig zu machen. Bald nach Amtsantritt erwarb er sich durch Steuergeschenke an die Unternehmer den Titel »Genosse der Bosse«. Um seine Wiederwahl 2002 zu sichern, lehnte Schröder die Entsendung deutscher Truppen in den Irak ab. Dafür verkündete er im März 2003 die Agenda 2010, ein Rückbau des Sozialstaats, den Kohl trotz pflichtschuldiger Bekenntnisse zum Marktfundamentalismus stets vermieden hatte. Darüber verlor Schröders SPD Parlamentsmehrheit und Parteilinke.

2023: Ukrainekrieg und keine ökologische Wende
Die Mischung aus Steuersenkungen und Haushaltskonsolidierung drückte auf die inländische Nachfrage. Ebenso der radikalisierte Sozialabbau, der zu einer rasanten Ausdehnung der Niedriglohnsektors führte.
Während die Exportabhängigkeit Deutschlands wuchs, verlor die Konjunkturlokomotive USA an Kraft. Nach dem Ende des dot.com-Booms nahm sie kaum an Fahrt auf. Nach der Weltwirtschaftskrise 2008/2009 ging es nur noch im Schneckentempo voran. China wurde zum Motor der Weltwirtschaft. Der deutschen Exportindustrie war es recht. Neben Fertigwaren wurden auch Produktionsstätten nach China exportiert.
Aber was der deutschen Export­industrie recht ist, ist der lahmenden Führungsmacht USA nicht billig. US-Regierungen haben sich immer wieder kritisch über deutsche Leistungsbilanzüberschüsse geäußert, sie aber letztlich doch akzeptiert und tun dies auch weiterhin. Aber der Zugang zum US-Markt ist nicht mehr selbstverständlich. Im Namen der nationalen Sicherheit verschärft Joe Biden den bereits von seinem Vorgänger Donald Trump betriebenen Protektionismus und pumpt, anders als Trump, auch jede Menge Staatsgeld in die Wirtschaft.
Der Zugang zu einem von den USA gestalteten Weltmarkt hing von Deutschlands Rolle als politischem Juniorpartner ab. Die politischen Eliten des Landes haben in Reaktion auf den Ukrainekrieg bewiesen, dass sie diese Rolle weiter zu spielen bereit sind. Die wirtschaftlichen Eliten sorgen sich aber darum, dass die USA künftig nur noch einen Teil des Weltmarkts dominieren und sich mehr um die Ankurbelung ihrer eigenen Wirtschaft als der ihrer verbliebenen Partnerländer kümmern.
Sie sorgen sich auch darum, dass die Parteinahme für die USA die in den vergangenen Jahren immer wichtiger gewordenen Wirtschaftsbeziehungen mit China untergraben könnten. Für den Widerspruch zwischen Westorientierung und gleichzeitiger Abhängigkeit von chinesischen Märkten gibt es keine Lösung. Da helfen weder eine Agenda 2030 noch der von Scholz ins Spiel gebrachte Deutschland-Pakt. Der ökologische Umbau, obwohl zum Standardrepertoire des politischen Diskurses avanciert, kommt unter die Räder des neuen Kalten Krieges.

Ingo Schmidt ist marxistischer ­Ökonom und lebt in Kanada und in Deutschland.

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