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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 11/2023

Kommunen zeigen, wie eine andere Migrationspolitik möglich ist
Gespräch mit Julia Scheurer und Lea Rau

Die Plattform Moving Cities listet 781 Städte, darunter 239 in Deutschland, auf, die sich für eine solidarische Migrationspolitik einsetzen.
Die Berlin Governance Platform (BGP) vernetzt kommunale Akteure zum Thema Migration.
Julia Scheurer ist Politikwissenschaftlerin, sie arbeitet aktuell als Projektleiterin bei Moving Cities.
Lea Rau ist Advocacy Managerin im Migrationsteam der Berlin Governance Platform.

Medien und Politik hierzulande sprechen von überlasteten Kommunen, es kämen zu viele Flüchtlinge und würden Asyl beantragen. Was ist dran an der Debatte?

Dass die Asylantragszahlen nach der Coronapandemie wieder steigen würden, war wenig überraschend. Allerdings werden viele Folgeanträge auf Asyl von Menschen gestellt, die schon länger im Land sind. Sie tauchen in diesen Zahlen wieder auf, ohne neu in die EU gekommen zu sein. Diese Differenzierung ist wichtig, wenn sich der Diskurs hauptsächlich um das Dichtmachen der Grenzen dreht.
Hinzugekommen ist die große Gruppe der schutzsuchenden Ukrainer:innen, die keine Asylanträge stellen müssen, sondern vorübergehenden Schutz in der EU erhalten können. In der Gesamtschau stellt das eine Herausforderung für die Kommunen dar. Ideen, um diese Herausforderungen zu meistern, sind schon längst da. Das zeigen wir auch bei Moving Cities und in der Zusammenarbeit mit dem zivilgesellschaftlichen Netzwerk From the Sea to the City, zu dem die BGP gehört, und mit dem Städtenetzwerk Internationale Allianz sicherer Häfen. Wir werden langfristige Lösungen brauchen, denn Kriege und Krisen werden weiter ausbrechen.

Welche Mittel müssten zur Verfügung stehen, damit eine solidarische Politik mit Geflüchteten gelingen kann?

Gemeinsam mit kommunalen Akteuren aus sieben europäischen Ländern und zehn Städten waren wir Anfang Oktober in Brüssel, um solidarische Lösungen für die lokale Ebene in den Städten und für EU-Migrationspolitik zu entwickeln.
Wir haben dort auch mit Abgeordneten aus dem EU-Parlament und der EU-Kommission gesprochen. Eine der dringenden Forderungen der Städte ist: Sie wollen mit am Verhandlungstisch sitzen. Momentan ist das nicht der Fall, ihre Perspektiven fehlen in den Verhandlungen über die Reform des europäischen Asylsystems. Außerdem fordern die Städte direkte finanzielle Förderung von der EU an die Kommunen, ohne den Umweg über die oft viel konservativeren Nationalregierungen. Das würde den Kommunen deutlich mehr Handlungsspielraum verschaffen.

Die vermeintliche »Flüchtlingskrise« heben viele Politiker:innen und Medien auf ein Niveau mit dem Krieg in der Ukraine, der Pandemie und der Klimakrise. Zurecht?

Asyl ist keine Krise! Ganz im Gegenteil, Asyl ist ein Menschenrecht. Wenn Nationalstaaten immer weiter auf Abschottung setzen und populistische Parteien Angst vor Geflüchteten schüren, entsteht ein Krisendiskurs, der den Weg hin zu einer progressiven und pragmatischen Migrationspolitik versperrt.
Was wir brauchen ist ein Fokus auf die lokale Ebene, auf die Städte und Kommunen, die vielerorts in Europa schon gute Lösungen für die Aufnahme und Integration gefunden haben. Wir brauchen mehr und nicht weniger Finanzierung der Kommunen, so dass langfristige Lösungen bei der Unterbringung und Inklusionspolitik gefunden werden können. Damit die Kommunen bei der nächsten internationalen Krise vorbereitet sind und vermeiden, dass direkt wieder eine Überlastungssituation eintritt.
Wir kennen die kommunalen Probleme und bekommen bestätigt, dass Migration, wenn sie als Chance begriffen und behandelt wird, langfristig sogar zu einer Bewältigung vieler Herausforderungen beitragen kann. Legale Zugangswege auch abseits von Jobqualifikationen und ein menschenrechtsbasierter und effizienter Umgang mit sog. irregulärer Migration sind hier nicht nur wünschenswert, sondern notwendiger Bestandteil einer nachhaltigen Lösung.

Was wäre die Konsequenz, wenn Geflüchtete nur noch Sachleistungen erhalten würden, wie es viele Politiker:innen vorschlagen?

Das sind populistische Vorschläge. Wer sich auf die lebensgefährliche Überfahrt übers Mittelmeer begibt, lässt sich nicht davon abschrecken, ob es hier in Deutschland Lebensmittel über Bargeld oder über Gutscheine gibt. Migration ist ein Fakt, sie war immer da und wird immer sein.

Welche ermutigenden Beispiele einer gelungenen, solidarischen Politik gibt es in der EU auf kommunaler Ebene?

Wir kennen unzählige Beispiele. Ein Ansatz, der Hoffnung macht, ist der Aktionsplan für Migration, den die Stadt Zagreb verabschiedet hat, um Migrant:innen aufzunehmen. So versucht das linksregierte Zagreb, handlungsfähig zu bleiben, während der kroatische Staat auf Abschottung setzt. Utrecht hat mit direkter Finanzierung über EU-Gelder und mit Beteiligung der ganzen Nachbarschaft neue und nachhaltig Unterbringungsplätze für Geflüchtete geschaffen, während Amsterdam ein spannendes und erfolgreiches Programm für Geflüchtete ohne Papiere anbietet, die sonst oft in der Illegalität leben müssen.
In Deutschland haben auch kleine Kommunen wie Rottenburg am Neckar solidarische Maßnahmen ergriffen und z.B. Patenschaftsprogramme aufgelegt, die eine zusätzliche Aufnahme besonders schutzbedürftiger Geflüchteter ermöglichen. Einige Kommunen beteiligen Migrant:innen auch an der Ausarbeitung der Programme: Besonders hervorgehoben haben wir Danzig, weil es die einzige Stadt in Polen ist, die sich gezielt von Menschen mit Migrationshintergrund beraten lässt.

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