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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 11/2023

Trotz Krieg wird der Kollektivvertrag gekündigt
von Hermann Nehls

Die vier Gewerkschafter:innen, die in der Zeit vom 10. bis 13.Oktober 2023 in die Ukraine reisten, um Ak­tivis­t:innen zu treffen, besuchten auch die Gewerkschaft der Metall- und Bergbauarbeiter von ArcelorMittal in Krywyj Rih. Das Gespräch fand im Gebäude der Gewerkschaft statt. Es wurde unterbrochen durch einen Bombenalarm, der uns zwang, das Gespräch in einem sicheren Luftschutzkeller fortzuführen.

Krywyj Rih liegt etwa 400 Kilometer südöstlich von Kiew, es ist nach Dnipro die größte Stadt im Oblast Dnipropetrowsk und eines der großen Eisenerzabbau- und Industriezentren der Ukraine. ArcelorMittal ist ein internationaler Stahlkonzern mit Sitz in Luxemburg und Werken unter anderem in Bremen und Eisenhüttenstadt.
Natalja Marynjuk, die Vorsitzende der Gewerkschaft, die dem Dachverband FPU angehört, begrüßt uns sehr herzlich. Sie freut sich über den Besuch aus Deutschland und berichtet gleich zu Beginn des Treffens, wie wichtig ihnen die Unterstützung der IG Metall Bremen war, die 2022 zwei große Hilfslieferungen für das Werk organisiert hat. Natalja hatte gleich zu Beginn des Krieges über 130 Briefe an europäische Gewerkschaften geschrieben. Die deutschen und Schweizer Gewerkschaften waren die ersten gewesen, die antworteten. Die Schweizer Gewerkschaften schickten damals eine Geldspende in Höhe von 80000 Euro. Mit dem Geld hat die Gewerkschaft Kleidung für die 3000 Kollegen angeschafft, die an der Front kämpfen. Die Geschäftsleitung wiederum hat Schutzwesten und Helme finanziert. 105 Kollegen wurden getötet, 23 sind spurlos verschwunden.

Neue Wege der Ausbildung
Im Werk arbeiten aktuell 10000 Beschäftigte, vor dem Krieg waren es 22000. Das Werk arbeitet nur noch auf 30–40 Prozent seiner Kapazität. Das Problem ist nicht die Auftragslage, sondern die Transportschwierigkeiten.
Die Produktion musste reduziert werden, weil die Transportwege für Eisenerz zusammengebrochen sind. Vor dem Krieg wurden 80 Prozent der Erzeugnisse über das Schwarze Meer verschifft. Das ist jetzt nicht mehr möglich. Das Eisenerz wird jetzt zu wesentlich höheren Preisen mit der Bahn zur Donau und von dort zur Weiterverarbeitung in den Filialen von ArcelorMittal gebracht.
Mehrere tausend Beschäftigte sind deshalb jetzt zu Hause. Die Gewerkschaft hat ausgehandelt, dass sie zwei Drittel ihres Gehalts bekommen.
Der Gewerkschaft ist die Sicherheit der Beschäftigten ein besonderes Anliegen, darauf weist Natalja immer wieder hin. Sie sieht es mit großer Sorge, dass ausreichende und adäquate Arbeitskleidung und Schuhe fehlen, die gerade bei der Produktion von Eisenerz besonders wichtig sind. Firmen, die diese Artikel herstellen, können jetzt nicht mehr liefern.
Neben der Frage der Sicherheit liegt ein Schwerpunkt der Gewerkschaft auf der Qualifizierung der Beschäftigten. Mit der Staatlichen Hochschule für Wirtschaft und Technologie gibt es einen engen Austausch. Andrij Schaikan, der Rektor der Universität, war bei unserem Treffen dabei. Er wünscht sich, mehr über das deutsche Modell der Berufsausbildung und betrieblichen Ausbildungszentren zu erfahren. Da das Ausbildungszentrum, das noch aus Zeiten der Sowjetunion stammte, und die Hochschule Ende Juli von russischen Raketen zerstört wurde, kann man jetzt neu beginnen. Bedarf besteht an neuem Lehr- und Lernmaterial.
Sie sind neugierig zu erfahren, wie in Deutschland das duale Studium organisiert wird. Enrico Wiesner, der zur Delegation gehört, hat zugesagt, einen Kontakt zum ArcelorMittal-Werk in Deutschland herzustellen, um Informationen auszutauschen. Andrij ist überzeugt, dass Gewerkschaften etwas »absolut Positives« seien. Sie kämpften für das Gute und gegen das Schlechte. Dies komme zum Ausdruck, indem Gewerkschaften über Landesgrenzen hinweg zusammenarbeiteten. Besonders in diesen schweren Zeiten.

Angriffe – nicht nur aus der Luft
Unsere Frage, ob es Konflikte mit der Geschäftsleitung gibt, wird mit einem sehr deutlichen »Und wie!« beantwortet. Natalja ist entsetzt darüber, dass das örtliche Management einen seit 2007 bestehenden Kollektivvertrag, der alle wesentlichen Arbeitsbeziehungen regelt, in 26 Punkten verändern will. Der Kollektivvertrag läuft formal am 31.12.2023 aus. Bisher war es üblich, dass der Vertrag einfach verlängert wird. Genau dies hatte die Gewerkschaft auch vorgeschlagen. Jetzt soll alles anders sein. Natalja ist der Meinung, dass das Management die Kriegssituation ausnutzt, um bspw. Sicherheitsstandards zu senken.
Wenige Tage vor unserem Besuch gab es mit allen elf im Werk vertretenen Gewerkschaften ein Treffen um zu beraten, wie man gemeinsam gegen das Vorhaben des Managements vorgehen kann. Die Allianz der Gewerkschaften bereitet ein Ultimatum vor. Die Handlungsmöglichkeiten sind durch die Kriegssituation formal beschränkt. Trotzdem will man eine Streikoption nicht ausschließen.
Natalja hofft auf ein Einlenken der Geschäftsleitung. Sie hat dem Vorstandschef von AcelorMittal geschrieben und um Unterstützung gebeten. Er solle doch bitte nach Krywyj Rih kommen und sich ein Bild von der Arbeitssituation machen. Die Sicherheit für die Beschäftigten sei jetzt schon katastrophal, da könne man die Standards nicht noch absenken. Man habe nicht vergessen, wie alle ausländischen Mitglieder der Geschäftsleitung eine Woche vor Kriegsausbruch die Ukraine verlassen haben.
3000 Beschäftigte kämpfen an der Front und sorgen für die Sicherheit der Stadt und für die Sicherheit des Werks. Jetzt den Kollektivvertrag zu kündigen, wäre einfach eine Schweinerei. Wir sollen unbedingt von diesem Konflikt berichten, wenn wir wieder in Deutschland sind.

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