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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 11/2023

Der Krieg in der Ukraine aus der Perspektive von unten
von Gaston Kirsche

Igort: Berichte aus der Ukraine. Tagebuch einer Invasion. Aus dem Italienischen von Myriam Alfano. Berlin: Reprodukt, 2023. 168 S., 26 Euro

In seiner Graphic Novel schildert der Zeichner Igort die Grausamkeiten des Krieges durchgehend aus der Perspektive von unten – durch einfache Leute, die der kriegerischen Gewalt ausgeliefert sind. Ein notwendiges Gegenstück zu den geostrategisch daherkommenden großen Diskursen.

Packpapierfarben hinterlegt sind die Seiten, oft liniert, besonders wenn auf gezeichnete Erlebnisse kurze erklärende Texte folgen. Der italienische Zeichner Igort hat während längerer Aufenthalte in der Ukraine und in Russland mit vielen Leuten gesprochen. Auf diesen Befragungen basierten bereits seine ersten beiden Comicreportagen über die beiden Nachfolgestaaten der Sowjetunion: Berichte aus Russland. Der vergessene Krieg im Kaukasus und Berichte aus der Ukraine. Erinnerungen an die Zeit der UdSSR.
Als die russische Armee auf Befehl des neuen Zaren Putin am 24.Februar 2022 in die Ukraine einmarschierte, telefonierte der Zeichner von Italien aus mit vielen seiner Kontakte in der Ukraine, wie er zu Beginn schildert: »Seit Tagen klingelt das Telefon ­ohne Unterbrechung. Die Nachrichten, die ihr lesen werdet, sind Augenzeugenberichte von Frauen und Männern unter Belagerung. Menschen, die sich niemals hätten träumen lassen, im Rampenlicht zu stehen. Menschen, die ein ganz normales Leben führten.«
So kam es, dass der erfahrene Zeichner aus Italien erneut eine Comicreportage über die Ukraine verfasste. Igort, der bereits Anfang der 80er Jahre in Bologna die Künstlergruppe Valvoline mitbegründete, die ab 1981 das Independent-Comicmagazin Il Pinguino gestaltete, thematisiert in seinem neuen Band seine eigenen Schwierigkeiten damit, überhaupt zu verstehen, was dieser Krieg bedeutet. Die ihm von seinen Bekannten geschilderten Erlebnisse verdichtet er gekonnt. Igort erscheint als sehr guter Zuhörer und routinierter Erzähler und Zeichner. Die Dominanz erdfarbener Braun-Grau-Schattierungen gibt der Graphic Novel einen Ton vor, der zu dem Krieg passt. Klare, reine Farben – es gibt sie nicht, es gibt »Elend und Asche«, wie das erste Kapitel auch benannt ist.
Die Darstellungen sind von Kalenderblättern gegliedert – Tag 1 bis 98 der Invasion. »Ein Krieg ist immer nur ein schmutziger Krieg. Keine Helden, kein Ruhm, nur Elend«, steht auf der ersten Seite, und diese Haltung zieht sich durch den Band. Weder die markigen Durchhalteparolen des ukrainischen Präsidenten noch die aggressive Unterwerfungsrhetorik des russischen Präsidenten spielen hier eine große Rolle. Zwar werden auch bekannte Ereignisse geschildert, allerdings meist aus der unmittelbaren Wahrnehmung der Bekannten von Igort: So erklärt die Großmutter von J., die Roma zu kennen, die mit einem Traktor der russischen Armee einen Panzer entwendet haben.
Viel geht es um die Mühen des Alltags im Kriegszustand. Auch darum, dass es im Krieg Profiteure und Verlierer gibt, nationalistische Propaganda hin oder her. Am vierzehnten Tag der Invasion hat Olya endlich eine Überweisung von umgerechnet 80 Euro bekommen – in den Feuerpausen einen offenen Bankschalter zu finden, ist nicht einfach, und dann: Die Bank verlangt 20 Prozent Provision auf die Auszahlung. Es gibt noch mehr solcher Schilderungen über Kriegsprofiteure.
Die Angst, für einen Saboteur oder Kollaborateur gehalten zu werden, taucht im Band mehrmals auf: »Red so wenig wie möglich. Überleg genau, was du sagst. Wir sind im Krieg. Den Nachbarn der Romanchyuks haben sie abgeholt. Ein freundlicher Mensch, der noch keiner Fliege etwas zuleide getan hatte. Man hat nie wieder von ihm gehört. Die einen sagen, er sei ein Spion, die anderen, es sei alles ein Missverständnis.« Dazu dunkle Zeichnungen, auf denen wenig mehr als die schreckgeweideten Augen eines Lokführers zu sehen sind. Er muss mit seinem Kollegen einen Zug mit Waffen an die Front fahren, Soldaten haben es ihm befohlen.
Igort greift auch die Jagd auf Deserteure in der Ukraine auf – und das durch das Kriegsrecht mögliche Verbot für Männer im kampffähigen Alter von 18 bis 60 Jahren, das Land zu verlassen. Da ist Maksim, der eigentlich in Belgien wohnt. »Er wollte seine Familie wiedersehen. Jetzt sitzt er in der Falle und bittet uns um ein Einladungsschreiben, damit er rauskommt. Aber die Flughäfen sind alle geschlossen.«
Doch dort, wo Igort das Vorgehen der russischen Armee explizit kritisiert, bleibt die Schilderung der Lage der ukrainischen Deserteure kursorisch, kommt nur am Rande vor. Igort schildert über zehn Seiten das Schicksal des jungen russischen Marinesoldaten Evgenij, der aus Sibirien in die Ukraine kommt, weil er denkt, an einer Übung teilzunehmen, den Dienst quittieren will und deshalb von seinen »Kameraden« erschlagen wird.
Aber auch am Tag 51 der Invasion gibt es junge Männer, die nur aus der Ukraine rauswollen – allerdings nicht dürfen: »Von Sascha im Grunde nichts Neues, außer dass er deprimiert ist, weil er nicht aus der Ukraine herauskommt. Er hat Glück, dass sie ihn nicht einberufen haben, jetzt verkauft er Eier, um zu überleben.« Dazu Bilder einer Dorfstraße, kein Mensch ist draußen zu sehen. Dann die nächste Familie: »Babuschka ist verzweifelt, ihr Neffe will sich auf die Reise der Hoffnung begeben, mit seiner kleinen Tochter und seiner Frau. Sie wollen raus, halten es nicht mehr aus. Die Einzige, die klar denken kann, ist die, die weiß, was auf dem Spiel steht. ›Ihr habt doch gehört, dass Kriegsrecht gilt, oder? Wisst ihr, was es heißt, wenn unsere Leute euch anhalten?‹«
Die im Stil alter Schreibmaschinenschrift geletterten Buchstaben passen zu den Bildern der Kargheit, der Angst. Am Tag 26 der Invasion zeigt Igort die Leichen vieler Zivilisten in den Straßen von Butscha nach dem Abzug der russischen Armee. Sie gezeichnet zu sehen, ermöglicht einen klareren Blick auf das Geschehen als die obszönen Bilder aus den Fernsehnachrichten vom April 2022, als die Leichen detailliert gezeigt wurden – Kamera direkt drauf. Das Bild des vom Fahrrad geschossenen Mannes, es wirkt gezeichnet viel erschütternder. Die Willkür des soldatischen Mordens wird deutlicher, die bei den Fernsehbildern durch den Tabubruch des Zeigens der Leichen überlagert wurde.
Am Tag 80 der Invasion nennt Igort die »64.Motorschützenbrigade« der russischen Armee als die Täter von Butscha, die von Putin nach dem Massaker mit dem Ehrentitel »Garde-Status« ausgezeichnet worden seien. Hier gleitet Igort aber selbst durch die Auswahl der Zitate in demagogische Propaganda ab – schuld an der Brutalität in Butscha sei die mongolische, nichtslawische Herkunft der Täter: »›Die brutalen Burjaten sind der Abschaum der russischen Armee. Sie sind zu allem fähig‹, sagt Jevhen. ›Sie gehören einer ethnischen Minderheit mongolischer Herkunft an und kommen aus verarmten sibirischen Dörfern … Weil sie den Mongolen näherstehen als den Slawen, kennen sie kein Mitgefühl und werden an vorderster Front eingesetzt.‹«
Dieser Ausreißer und einige andere – etwa die verharmlosende Darstellung von Stepan Bandera – ändert jedoch nicht den Gesamteindruck: Igort gelingt es mit dem Tagebuch einer Invasion die Aufmerksamkeit auf die alltäglichen Schrecken des Krieges zu lenken, für deren Beendigung die russische Armee ihre Invasion beenden muss.

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