Ein neuer Versuch antikapitalistischer Politik
von Ayse Tekin
Die jüngsten Wahlergebnisse in der Türkei haben die Hälfte der Wähler mit einem Trauma zurückgelassen, so groß war der Wunsch nach einem Wechsel und der Abwahl von Präsident Erdogan. Während die AKP (Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung) und die größte Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei) sich auf die Kommunalwahlen im März nächsten Jahres konzentrieren, haben die Parteien aus dem linken »Bündnis für Arbeit und Freiheit« unterschiedliche Konsequenzen gezogen.
Die HDP (Demokratische Partei der Völker) ist mit der Partei »Grüne Linke« (Yesil Sol) unter einem neuen Namen zusammengegangen. Die neue Partei nennt sich »Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie« (Halklarin Esitlik ve Demokrasi Partisi). Die »Arbeiterpartei der Türkei« (TiP – Türkiye Isci Partisi) hat erklärt, ihre Wahlziele mit vier Abgeordneten im Parlament erreicht zu haben. Davon sind drei Abgeordnete erneut ins Parlament gewählt worden. Der neu dazu gewählte Can Atalay, der wegen der Gezi-Proteste im Gefängnis sitzt, und jetzt seine Abgeordnetenurkunde erhalten hat, wurde – entgegen der geltenden Gesetze – nicht frei gelassen. Seine Partei führt in der Türkei und auch in Europa eine Kampagne für seine Freilassung.
Die Arbeiterpartei der Türkei hatte bei den Präsidentschaftswahlen den Oppositionskandidaten Kemal Kilicdaroglu unterstützt und trat bei den Parlamentswahlen in mehreren Wahlbezirken (50 von 87) mit eigenen Kandidaten auf. Sie begründete ihre Entscheidung damit, dass sie in diesen Wahlbezirken aus eigener Kraft ins Parlament einziehen und bei der Wahlkampagne ihre Themen in den Vordergrund stellen wolle. Dadurch, dass die Stimmen des Bündnisses addiert und damit die Sperrklausel für einzelne Parteien (7 Prozent) obsolet wurde, konnte sie dieses Ziel erreichen.
Die TiP wurde dafür stark kritisiert. Sie positionierte sich eindeutig als Partei der Lohnabhängigen und konnte eine Million Wählerinnen und Wähler überzeugen. Damit hat sie, gemessen an Gesamtwahlergebnis, 1,7 Prozent geholt. Die TiP sagt in ihrer Wahlauswertung: »Seit unserer Gründung ist unser Ziel, den Sozialismus bei den Massen bekannter zu machen. Die Wahlen 2023 waren dafür eine Etappe … Über ihre fünfjährige Geschichte hinaus hat unsere Partei ein Beispiel geschaffen, das sozialistische Parteien in den letzten 60 Jahren nicht erreicht haben.«
Die Wähler:innen
Die TiP war aus Bündnisgründen zugunsten der HDP im Osten und einigen anderen Wahlbezirken der Türkei nicht angetreten. Sie holte ihre Erfolge im Westen der Türkei, in der Küstenregion und besonders in den Großstädten. Die Wähler:innen der TiP sind sicherlich nicht aus einem Guss. Unter ihnen sind besonders junge Wähler, aber auch ältere enttäuschte Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten; es gibt Arbeiterinnen und Arbeiter, aber auch gut situierte, gut ausgebildete Lohnabhängige und Intellektuelle. Interessant ist, dass die Partei in den sozioökonomisch gut gestellten Bezirken bessere Ergebnisse erzielt hat.
Tatsächlich beobachten die Wahlanalysten seit 2010 in den Wahlergebnissen eine Teilung nach Identitäten: Konservative/Nationalist:innen/Islamist:innen; Kemalist:innen/Laizist:innen/Alevit:innen; Kurd:innen und Linke. Diese Teilung war auch bei den Wahlen in diesem Jahr zu beobachten, wenn man die Ergebnisse der Bündnisse auf einer Türkeikarte aufträgt. In kurdischen Gebieten hat die HDP bessere Ergebnisse erzielt, an den Küsten und in der Westtürkei das Sechserbündnis der Oppositionsparteien und in Mittelanatolien ganz klar das Regierungsbündnis.
Laut Wahlanalysen und eigenen Angaben hat die TiP 30 Prozent ihrer Stimmen von Nichtwähler:innen oder Wechselwähler:innen bekommen.
Die TiP wurde als »Partei der Weißen Türken« kritisiert. Ein als solcher kategorisierbarer Wähler hat seine Entscheidung allerdings wie folgt begründet: »Endlich kümmert sich eine Partei unabhängig von der Identität um die Lohnabhängigen.« Das ist eine wichtige Feststellung, wobei die TiP sich auch mit Gruppen solidarisiert, die sich auf Grundlage ihrer Identität für die Wahl einer Partei entscheiden – wie die HDP-Wähler:innen.
Ein alter, neuer Stern
Die Arbeiterpartei der Türkei wurde vor sechs Jahren (am 7.November 2017) gegründet bzw. unter diesem Namen neu aufgestellt. Der Name hat eine Legende: Die erste »Arbeiterpartei der Türkei« wurde im Jahre 1961 als erste sozialistische Partei offiziell gegründet und konnte bei ihrem ersten Wahlantritt im Jahre 1965 mit 2,7 Prozent der Stimmen 15 Abgeordnete ins Parlament senden. Diese Partei wurde beim Putsch 1971 zum ersten und beim Putsch 1980 zum zweiten Mal verboten.
Die alte T?P hatte eine besondere Stellung innerhalb der türkischen linkssozialistischen Bewegung inne. Ihre Gründung und ihr Wahlerfolg ebneten den Sozialisten den Weg, in der damaligen türkischen öffentlichen Meinung stärker an Bedeutung zu gewinnen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat sie sich mit der moskauorientierten Kommunistischen Partei der Türkei (TKP) vereinigt. Nach mehreren Spaltungen in diesem ohnehin kleinen Kreis wurde die TiP als neue Partei noch einmal ins Leben gerufen.
Die Initiative ging von dem jetzigen Vorsitzenden Erkan Bas aus. Erkan Bas ist als Kind einer Migrantenfamilie aus Bosnien in Berlin geboren. Die Familie migrierte weiter in die Türkei, wo er sich in der Politik engagierte. Erkan Bas wurde bei den Parlamentswahlen 2018 auf der HDP-Liste ins Parlament gewählt, später ist er aus der Fraktion ausgetreten und hat als Abgeordneter seiner Partei zunächst allein weiter gemacht. Durch seine Reden im Parlament und durch die aktive Nutzung der sozialen Medien hat er Popularität erreicht.
In diesem Jahr hat sich auch der HDP-Abgeordnete Baris Atay der TiP angeschlossen. Atay ist ebenfalls in Deutschland, in Wilhelmshaven, geboren, aus dem er im Kindesalter mit seiner Familie wieder in die Türkei zurückkehrte. Drei Jahre später gewann die Partei zwei weitere Abgeordnete, Ahmet Sik aus der HDP und Serra Kadigil aus der CHP, dazu. Diese Vierergruppe nutzte das Parlament für gute, klare Reden gegen die Regierung und Straßenaktionen an der Seite der Arbeiterinnen und Arbeiter sowie Menschenrechtler:innen. Sie traten bei Streiks auf, bei Protesten, überall wo sie die Möglichkeit hatten, und zeigten eine klare Haltung gegen den Kapitalismus, für friedliches Zusammenleben der Völker, für Menschenrechte und für die Rechte der Arbeiter:innen. Ihre Haltung war unaufgeregt und so überzeugend vorgetragen, dass die Partei in drei Jahren von 700 Mitgliedern auf 10000 gewachsen ist.
Zwei Ereignisse haben den Erfolg in diesem Jahr beflügelt: Nach einem YouTube-Auftritt von Baris Atay auf der besonders bei Jugendlichen beliebten Plattform BaBaLa TV wurde das Parteibüro in Istanbul quasi überrannt von Menschen, die Mitglied werden wollten. Der Auftritt war Anfang Januar, dauerte dreieinhalb Stunden und wurde einundzwanzigmillionenmal abgerufen. Uraz Aydin aus der Istanbuler TiP-Zentrale sagte, der Auftritt sei so überzeugend gewesen, dass sich sogar junge konservative Wähler angesprochen fühlten und die Mitgliedschaft wünschten.
Knapp einen Monat später, am 6.Februar, war das große Erdbeben im Süden der Türkei, und die Stadt Hatay, wo der Wahlbezirk von Baris Atay war, wurde zerstört. Mitglieder und Unterstützer der TiP waren in den ersten Wochen in der Stadt und haben mit persönlichem Einsatz sowie Material Solidarität gezeigt. Diese Solidarität war so groß, dass die Wähler:innen in drei Wahlbezirken von Hatay mit 14 bis 28 Prozent für die TiP gestimmt haben und deren Kandidaten, Rechtsanwalt Can Atalay, ins Parlament sendeten. Mitte des Jahres erreichte die Mitgliederzahl der Partei nach eigenen Angaben 40000.
Ein offenes Konzept
Abgesehen von der heterogenen Mitglieder- und Wählerschaft ist die TiP ein Pool für verschiedene Organisationen, die in die Partei integriert sind. Dabei sollte man die Entwicklung der sozialistischen Bewegung in der Türkei nicht außer acht lassen: Waren in den 70er Jahren Untergrundorganisationen und Straßenbewegungen vorherrschend, wo Parlamente und Wahlen verachtet wurden, wurde in den 90er Jahren eine Kehrtwende vollzogen.
Ein Teil der sozialistischen Gruppen der 70er Jahre hat sich zur »Freiheits- und Solidaritätspartei« (ÖDP) zusammengeschlossen. Mit der Ankündigung, einen neuen linken und sozialistischen Diskurs aufzubauen, trat die ÖDP mit großen Hoffnungen an, erhielt bei den Parlamentswahlen 1999 aber nur 0,8 Prozent der Stimmen. Nach mehreren Enttäuschungen bei Wahlen hat sie mehrere Spaltungen erlebt und macht jetzt unter dem Namen »Linke Partei« weiter.
Die Arbeiterpartei der Türkei versucht, im antikapitalistischen Kampf für andere Gruppen offen zu sein, statt als Trägerin einer einzigen Tradition und mit dem Verständnis einer strammen Kaderpartei zu agieren. So ist letztes Jahr die Gruppe, die sich der IV. Internationale zugehörig fühlt, in die TiP eingetreten. In ihrer Erklärung gibt sie an, zusammen »eine antikapitalistische politische Option anbieten« zu wollen. Besonders wichtig sei, »dass es sich um eine Basis handelt, die eine offen pluralistische und partizipatorische politische Kultur vertieft, indem die Reihen für alle geöffnet werden, die gegen die herrschende Ordnung kämpfen wollen«.
Tatsächlich wird die Partei wahrgenommen als Unterstützerin von Streikenden, von Betroffenen, die der Staatsgewalt ausgesetzt sind, und solchen, die aus verschiedenen Interessen für ihre Rechte kämpfen. Sie wird aus diesen Kreisen gefordert und aufgesucht. Ob sie für die Türkei eine dauerhafte Alternative sein kann, ist neben der eigenen Kraft und ihrem Willen auch von mehreren unwägbaren politischen Faktoren in der Türkei und in der Region abhängig.
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