Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 11/2023

Mit dem Fuß auf dem Gaspedal
von Christine Poupin

Das »große Abenteuer der zivilen Kernenergie« ist eine der fixen Ideen von Emmanuel Macron und wird von seiner Ministerin für den ökologischen Übergang als »ein großer ökologischer Fortschritt durch die Mobilisierung aller Hebel der Dekarbonisierung zur Bekämpfung der Klimaerwärmung« bezeichnet.

Die französische Regierung hat im Juni 2023 dank der Stimmen der Rechten und eines Teils der PCF ein Gesetz zur »Beschleunigung der Kernenergie« durchgesetzt. Es zielt darauf ab, die Verwaltungsverfahren zu vereinfachen um Zeit zu gewinnen, indem die Vorbereitungsarbeiten bereits vor der Genehmigung durch die Atomaufsichtsbehörde beginnen können. Es erlaubt der Atomindustrie, sich von verschiedenen Verpflichtungen zu befreien: Baugenehmigungen, Küstenschutzgesetz, Nettoneulandgewinnung…
Außerdem ermöglicht es ihr, sich gegen juristische Anfechtungen ihrer Baustellen zu schützen und Sanktionen gegen militante Aktivist:innen, die in ein Atomkraftwerk eindringen, zu verschärfen. Zu allem Überfluss hat die Rechte zudem Änderungsanträge durchgesetzt, die darauf abzielen, sich des Ziels zu entledigen, den Anteil der Kernenergie am französischen Energiemix von derzeit fast 70 auf 50 Prozent zu senken.
Die Regierung wollte das Gesetz nutzen, um das Institut für Strahlenschutz und nukleare Sicherheit (IRSN) zu zerschlagen, indem es vom Amt für nukleare Sicherheit (ASN) geschluckt wird. Doch ein beispielloser Streik der Beschäftigten und der Widerstand zahlreicher Wissenschaftler veranlassten sie, davon Abstand nehmen. Im Hochsommer nahm Macron sein Fusionsprojekt jedoch wieder auf.
Die Regierung verwendet immer die gleichen Textbausteine: »Optimierung«, »Vereinfachung der Regierungsführung«, »Verflüssigung der Entscheidungsprozesse«; sie bezeichnen Deregulierung und die Aufforderung, mehr Anlagen schneller bereitzustellen, ohne Rücksicht auf die Qualität der Arbeit. Die Zusammenlegung von Expertise und Forschung – das ist die Rolle des ISRN – und Entscheidungsfindung – das ist die Rolle der ASN – birgt die Gefahr, dass erstere ihre Unabhängigkeit verlieren und von letzterer beeinflusst werden. Im Herbst soll ein neuer Gesetzesentwurf vorgelegt werden, der diese Neuorganisation vorsieht.

Pannen
Noch vor seiner Wiederwahl hatte Macron den Bau von vierzehn EPR2-Reaktoren (Europäischer Druckwasserreaktor der zweiten Generation) bis zum Jahr 2050 angekündigt. Die ersten sechs sollen zum Preis von geschätzt 60 Milliarden Euro paarweise an Standorten errichtet werden, an denen es bereits Reaktoren gibt: Penly (Normandie), Gravelines (Nord) und Bugey (Rhônetal).
Autoritärer Voluntarismus aber reicht nicht aus. Alles zu eliminieren, was rechtlich oder administrativ die nukleare Flucht nach vorn verlangsamen könnte, führt nicht dazu, dass die Anlagen besser funktionieren.
Die staatliche Elektrizitätsgesellschaft EDF und die Regierung, machen Druck, damit so schnell wie möglich die Arbeiten in Penly begonnen werden, aber… der EPR in Flamanville ist immer noch nicht angelaufen! Die Bauarbeiten sollten fünf Jahre dauern, doch nach elf Jahren kann der Reaktor immer noch nicht starten und soll erst Mitte 2024 in Betrieb gehen.
Das Kraftwerk weist zahlreiche Konstruktions- und Ausführungsprobleme auf, die grundlegende Bestandteile wie den Reaktorbehälter betreffen. Die geplanten Kosten von 3,3 Milliarden Euro sind um das Sechsfache gestiegen!
Das zweite Standbein, auf dem die Wiederbelebung der Kernenergie fußt, ist die Verlängerung der Lebensdauer der 56 bestehenden Reaktoren »bis zu sechzig Jahren und darüber hinaus«. Es steht viel auf dem Spiel: Zweiunddreißig 900-Megawatt-Reaktoren, die Ende der 1970er und in den 1980er Jahren in Betrieb genommen wurden und ursprünglich für eine Laufzeit von vierzig Jahren ausgelegt waren, sind noch in Betrieb. Im Februar 2021 hatte die ASN festgestellt, dass ihre »Verlängerung möglich ist«, eine allgemeine Entscheidung, die von Fall zu Fall durch eine spezifische Prüfung jedes einzelnen Reaktors bestätigt werden muss. In diesem Rahmen hat die Behörde nun dem Reaktor Nummer 1 in Tricastin erlaubt, bis zu fünfzig Jahre lang zu laufen.
Obwohl die EDF sich rühmt, der Umfang der vorgeschriebenen und durchgeführten Arbeiten sei »bei diesen vierten zehnjährigen Besichtigungen fünfmal so groß wie der Umfang der Arbeiten bei den dritten zehnjährigen Besichtigungen«, ist es unmöglich, den Optimismus des ASN-Beauftragten zu teilen, wenn er erklärt, damit würde »das gleiche Sicherheitsniveau [erreicht] wie bei Neubauten«. Selbst nach diesen Arbeiten bleiben die grundlegenden Bestandteile des Kraftwerks wie der Reaktorbehälter oder der Sicherheitsbehälter alt und sind nicht austauschbar.
Die einzige gute Nachricht angesichts dieser kriminellen Vorhaben ist die Entscheidung der verschiedenen Teile der Antiatomkraftbewegung, sich zusammenzuschließen und ihre Kräfte zu bündeln, eine Antiatomkraftkoordination zu gründen und gemeinsame Initiativen vorzubereiten.

Die Autorin ist Sprecherin der französischen NPA (Nouveau Parti Anticapitaliste) und in der Umweltbewegung aktiv.

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