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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 11/2023


Immer mehr Beweise deuten darauf hin

von Jonathan Cook
Alles deutet darauf hin, dass Israel wieder einmal ernsthaft eine massive ethnische Säuberungsaktion in Erwägung zieht, die blitzschnell und mit Unterstützung der USA durchgeführt werden soll
Als die israelischen Streitkräfte am Wochenende damit begannen, in begrenztem Umfang in den nördlichen Gazastreifen einzudringen, mehrten sich die Berichte, dass Israel Pläne zur Vertreibung eines Großteils oder der gesamten Bevölkerung der Enklave in das benachbarte ägyptische Gebiet Sinai vorbereitet.


Diese Befürchtungen wurden zum Teil durch einen in der israelischen Zeitschrift Calcalist veröffentlichten Bericht über einen durchgesickerten Entwurf des Geheimdienstministeriums genährt, in dem genau ein solcher Plan zur ethnischen Säuberung des Gazastreifens skizziert wurde. Weitere Bedenken wurden durch einen Bericht der Financial Times vom Montag geschürt, wonach Israels Premierminister Benjamin Netanjahu bei der Europäischen Union für die Idee geworben hat, die Palästinenser unter dem Deckmantel des Krieges in den Sinai zu vertreiben.

Einige EU-Mitglieder, darunter die Tschechische Republik und Österreich, sollen der Idee gegenüber aufgeschlossen gewesen sein und sie bei einem Treffen der Mitgliedstaaten letzte Woche ins Gespräch gebracht haben. Ein ungenannter europäischer Diplomat sagte der FT: "Jetzt ist es an der Zeit, den Druck auf die Ägypter zu erhöhen, damit sie zustimmen."

Dem durchgesickerten Dokument des israelischen Geheimdienstes zufolge sollen die 2,3 Millionen Palästinenser des Gazastreifens nach ihrer Vertreibung zunächst in Zeltstädten untergebracht werden, bevor im Norden der Halbinsel dauerhafte Siedlungen gebaut werden können.
Eine militärische "sterile Zone" von mehreren Kilometern Breite würde jede Rückkehr nach Gaza verhindern. Längerfristig würde Israel andere Staaten - insbesondere Kanada, europäische Länder wie Griechenland und Spanien sowie nordafrikanische Länder - ermutigen, die palästinensische Bevölkerung vom Sinai aufzunehmen.
Berichten zufolge ist das Ministerium der Ansicht, dass die Vertreibung der Palästinenser aus dem Gazastreifen in den Sinai "zu positiven und dauerhaften strategischen Ergebnissen führen könnte".
Für die Palästinenser hingegen ist es ein traumatisches Echo auf ihre Massenvertreibung aus ihrer Heimat bei der Gründung Israels im Jahr 1948 – was die Palästinenser ihre Nakba oder Katastrophe nennen.

Plan zur ethnischen Säuberung
Das durchgesickerte Dokument wurde schnell als Spekulation abgetan. Tatsächlich aber hat Israel seit mindestens 2007 einen solchen Plan zur ethnischen Säuberung des Gazastreifens auf dem Reißbrett, der von den Vereinigten Staaten genehmigt wurde. Das war kurz nachdem die Hamas die palästinensischen Wahlen gewonnen und die Kontrolle über die Enklave übernommen hatte.
Nach einer Reihe gescheiterter, geheimer diplomatischer Bemühungen in den letzten 16 Jahren, Ägypten mit Waffengewalt dazu zu bringen, diesen so genannten "Friedensplan" – offiziell als "Greater Gaza Plan" bekannt – zu akzeptieren, könnte Israel versucht sein, den gegenwärtigen Moment auszunutzen, um eine viel grausamere Version dieses Plans mit Gewalt durchzusetzen.


Das würde sicherlich Israels derzeitige verheerende Bombenkampagne im Gazastreifen erklären – die von offizieller Seite durchaus mit den schrecklichen Brandbombenangriffen auf die Zivilbevölkerung in der deutschen Stadt Dresden im Zweiten Weltkrieg verglichen wird – sowie Israels Befehl an eine Million Palästinenser, sich aus dem nördlichen Gazastreifen selber wegzusäubern.

Am Sonntag bombardierte Israel Gebäude rund um das Al-Quds-Krankenhaus im Norden des Gazastreifens und füllte die Krankenstationen mit Wolken aus giftigem Staub. Die Verwalter wurden wiederholt gewarnt, dass das Krankenhaus sofort evakuiert werden müsse. Das Personal erklärte, dies sei unmöglich, da zu viele Patienten viel zu krank seien, um verlegt zu werden.

Die Konzentration der Palästinenser im südlichen Gazastreifen – wo sie ebenfalls bombardiert werden, keinen Strom, keine Nahrungsmittel, kein Wasser und keine Kommunikationsmittel haben und Krankenhäuser und Hilfsorganisationen nicht funktionieren können – hat zu einer beispiellosen humanitären Katastrophe geführt. Der Druck auf Ägyptens Militärmachthaber Abdel Fattah el-Sisi, den Grenzübergang Rafah aus humanitären Gründen zu öffnen und die Palästinenser in den Sinai strömen zu lassen, wächst von Tag zu Tag.

Der Angriff der Hamas auf israelische Gemeinden in der Nähe des Gazastreifens am 7. Oktober könnte genau den Vorwand geliefert haben, den Israel braucht, um seinen Plan der ethnischen Säuberung zu verwirklichen.

Da Washington und Europa mit an Bord sind und die westlichen Medien sich immer noch in erster Linie auf das Trauma Israels und nicht auf das des Gazastreifens konzentrieren, kann Netanjahu nicht allzu lange warten, bis sich sein Zeitfenster zum Handeln schließt.

Druck auf Ägypten
Der "Greater Gaza Plan" kam erstmals 2014 ans Licht, nachdem er israelischen und ägyptischen Medien zugespielt worden war – offenbar als Teil einer Druckkampagne auf Sisi, der damals gerade mit Unterstützung der USA eingesetzt worden war. Das ägyptische Militär hatte im Jahr zuvor eine gewählte Regierung der Muslimbruderschaft gestürzt.

Der palästinensische Präsident Mahmoud Abbas bestätigte damals die Existenz des Plans und betonte, er habe ihn verworfen. In einem Interview sagte er, er sei "leider von einigen hier [in Ägypten] akzeptiert worden. Fragen Sie mich nicht weiter danach. Wir haben ihn abgeschafft, weil es nicht sein kann".
Middle East Eye war eines der wenigen westlichen Medien, die damals über diese Entwicklungen berichteten.

Als die Besorgnis unter Ägyptern und Palästinensern wuchs, meldete sich ein ehemaliger Berater von Hosni Mubarak, der Ägypten bis 2011 regierte, und erklärte, die Regierung von George W. Bush habe Mubarak bereits 2007 unter Druck gesetzt, den Plan zu akzeptieren.
Auch der nächste Präsident, Mohamed Morsi von der Muslimbruderschaft, wurde Berichten zufolge 2012 in ähnlicher Weise unter Druck gesetzt.
Die Quelle zitierte Mubarak mit den Worten: "Wir kämpfen sowohl gegen die USA als auch gegen Israel. Es wird Druck auf uns ausgeübt, den Rafah-Übergang für die Palästinenser zu öffnen und ihnen Aufenthaltsfreiheit zu gewähren, insbesondere im Sinai. In ein oder zwei Jahren wird die Frage der palästinensischen Flüchtlingslager im Sinai internationalisiert werden."

Damals wurde die Vertreibung der Palästinenser in den Sinai als "Friedensplan" verbrämt. Sollte Israel nun Erfolg haben, wird dies das Endspiel einer gewaltsamen ethnischen Säuberungsaktion sein.
Wie MEE bereits 2014 feststellte, sah der Greater Gaza Plan vor, 1.600 Quadratkilometer des Sinai – fünfmal so groß wie der Gazastreifen – an die palästinensische Führung im Westjordanland unter Abbas zu übertragen.
"Das Gebiet im Sinai würde zu einem entmilitarisierten palästinensischen Staat werden – genannt 'Groß-Gaza' –, dem die zurückkehrenden palästinensischen Flüchtlinge zugewiesen würden… Im Gegenzug müsste Abbas auf das Recht auf einen Staat im Westjordanland und in Ost-Jerusalem verzichten."

Die Hoffnung war, dass Abbas sich bereit erklären würde, einen palästinensischen Ministaat im Sinai zu gründen, in dem die meisten palästinensischen Flüchtlinge in der Region angesiedelt werden könnten, wodurch ihnen das Recht auf Rückkehr nach internationalem Recht genommen würde.
Die meisten Palästinenser im Gazastreifen sind Flüchtlinge oder Nachkommen von Flüchtlingen aus den ethnischen Säuberungsaktionen Israels von 1948.

Der Traum der israelischen Rechten
Die Idee der Schaffung eines palästinensischen Staates außerhalb des historischen Palästina – entweder in Jordanien oder im Sinai – hat eine lange Tradition im zionistischen Denken. "Jordanien ist Palästina" ist seit Jahrzehnten ein Schlachtruf der israelischen Rechten. Ähnliche Vorschläge gab es für den Sinai.

Der Plan wurde zum Kernstück der Herzliya-Konferenz 2004, einem jährlichen Treffen der politischen, akademischen und sicherheitspolitischen Eliten Israels zum Austausch und zur Entwicklung politischer Ideen. Er wurde von Uzi Arad, dem Vorsitzenden der Konferenz, mit Begeisterung angenommen.
Eine Variante der "Sinai ist Palästina"-Option wurde von der Rechten während der Operation "Protective Edge", Israels 50tägigem Angriff auf Gaza im Sommer 2014, wiederbelebt.

Mosche Feiglin, der Sprecher der israelischen Knesset und damals Mitglied von Netanjahus Likud-Partei, forderte, dass die Bewohner des Gazastreifens unter dem Deckmantel der Operation aus ihren Häusern vertrieben und in den Sinai umgesiedelt werden sollten, was er als eine "Lösung für Gaza" bezeichnete.

Der Greater-Gaza-Plan erhielt 2018 von der Trump-Administration weiteren Auftrieb, als Berichten zufolge erwogen wurde, ihn in den "Deal des Jahrhunderts" des US-Präsidenten aufzunehmen, um eine Normalisierung zwischen Israel und der arabischen Welt zu erreichen.

Israel begründete die Sinai-Option zwischen 2007 und 2018 damit, dass sie Abbas' Kampagne bei den Vereinten Nationen für die Anerkennung der palästinensischen Staatlichkeit untergraben würde.
Die groß angelegten israelischen Militärangriffe auf den Gazastreifen – im Winter 2008, 2012 und erneut 2014 – fielen zeitlich mit den Bemühungen Israels und der USA zusammen, die ägyptische Führung zur Abtretung von Teilen des Sinai zu bewegen.
Die Zerstörung des Gazastreifens und die Verschärfung der dortigen humanitären Katastrophe scheinen Teil dieser Druckkampagne gewesen zu sein.

Kein Mensch kann existieren
All dies ist der Kontext, in dem Israels derzeitiger beispielloser Amoklauf im Gazastreifen zu interpretieren ist, ebenso wie die ebenso beispiellosen Auswirkungen der politischen und militärischen Krisen in Israel, die durch den Hamas-Angriff vom 7. Oktober verursacht wurden.

Der "Greater Gaza Plan" sollte der palästinensischen Führung ursprünglich ein Bonbon bieten: eine Art Staat – allerdings nicht im historischen Palästina. Auf dem Sinai sollten neue palästinensische Städte, eine Freihandelszone, ein Kraftwerk, ein Seehafen und ein Flughafen entstehen.

Der Hauptkritikpunkt Ägyptens – abgesehen davon, dass es mit Israel bei der Auslöschung der palästinensischen nationalen Sache kollaboriert – war die Sorge, dass die Hamas eine Basis in Ägypten gewinnen und Ägyptens einheimische islamistische Bewegungen stärken könnte.

Vieles deutet darauf hin, dass die Entschlossenheit Israels, die Palästinenser nach Ägypten zu treiben, seit dem Anschlag vom 7. Oktober zugenommen hat und dass der Ausbruch der Hamas die Gelegenheit bietet, mit Gewalt zu erreichen, was auf diplomatischem Wege nicht zu erreichen war.
Die israelische Führung scheint nicht in der Stimmung zu sein, auf die ägyptischen Bedenken einzugehen.

Eine Woche nach Beginn der Militäroperationen erklärte der israelische Militärsprecher Amir Avivi gegenüber der BBC, dass Israel die Sicherheit der Zivilisten im Gazastreifen nicht gewährleisten könne. Er fügte hinzu: "Sie müssen nach Süden, auf die Sinai-Halbinsel, ziehen."

Am nächsten Tag bekräftigte der ehemalige israelische Botschafter in den USA, Danny Ayalon, ein Netanjahu-Vertrauter, den Standpunkt: "In der Wüste Sinai gibt es fast unendlich viel Platz… Es ist nicht das erste Mal, dass so etwas gemacht wird… Wir und die internationale Gemeinschaft werden die Infrastruktur für Zeltstädte vorbereiten."
Er schloss: "Ägypten wird mitspielen müssen."

Diese Beamten haben dies als eine vorübergehende Maßnahme während der israelischen Bombenkampagne und Bodeninvasion dargestellt. Aber alles deutet darauf hin, dass Israel weitaus größere Ambitionen hat.


Benny Gantz, ein ehemaliger General, der jetzt in einer Einheitsregierung mit Netanjahu sitzt, sagte, Israel habe einen Plan, um "die sicherheitspolitische und strategische Realität in der Region zu verändern".


Giora Eiland, ein ehemaliger nationaler Sicherheitsberater, sagte, das Ziel sei es, "Bedingungen zu schaffen, unter denen das Leben in Gaza unerträglich wird". Infolgedessen "wird Gaza zu einem Ort, an dem kein Mensch mehr existieren kann

Die Spirale gerät außer Kontrolle
Sisi ist sich des Drucks, den Israel auf Ägypten ausübt, mehr als bewusst. Auf einer Pressekonferenz am 18. Oktober warnte er, dass Israels Bombardierung des Gazastreifens eine humanitäre Krise auslöst, die "außer Kontrolle geraten könnte".
Er fügte hinzu: "Was jetzt in Gaza geschieht, ist ein Versuch, die Zivilbevölkerung zu zwingen, nach Ägypten zu flüchten, was nicht akzeptiert werden sollte."


Sisi befürchtet eine Wiederholung der Ereignisse von 2008, als Hunderttausende Palästinenser die Sperre zwischen dem Gazastreifen und dem Sinai durchbrachen, um aufgrund der israelischen Belagerung der Enklave Lebensmittel und Treibstoff zu erhalten. Um eine Wiederholung zu verhindern, hat Ägypten wiederholt die Sicherheitsmaßnahmen entlang seiner kurzen Grenze zum Gazastreifen verstärkt.


Berichten zufolge hat Kairo jedoch Vorbereitungen für eine derartige Entwicklung getroffen. Zu den Plänen gehört die schnelle Errichtung von Zeltstädten in der Nähe der Sinai-Städte Sheikh Zuwayed und Rafah.


Sisi sagte, wenn die Palästinenser in den Sinai vertrieben würden, würden die Ägypter "zu Millionen auf die Straße gehen und protestieren".
Die Besorgnis Kairos über die israelischen Absichten wird von Francesca Albanese, Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für die besetzten Gebiete, geteilt. Unter Bezugnahme auf die beiden wichtigsten historischen ethnischen Säuberungsaktionen Israels bemerkte sie: "Es besteht die große Gefahr, dass sich die Nakba von 1948 und die Naksa von 1967 wiederholen könnten, allerdings in größerem Maßstab. Die internationale Gemeinschaft muss alles tun, um zu verhindern, dass sich dies wiederholt."
Die USA, die den "Greater Gaza Plan" seit langem unterstützen, haben ihre eigenen Druckmittel – einschließlich des finanziellen Drucks –, um Sisi zum Einlenken zu bewegen. Ägypten steckt in einer noch nie dagewesenen Schuldenkrise von mehr als 160 Mrd. USD und einer steigenden Inflation, während Sisi auf die Präsidentschaftswahlen zusteuert.

Ägyptische Beamte glauben Berichten zufolge, dass Washington versuchen wird, einen Schuldenerlass als Anreiz für die Aufnahme von Flüchtlingen nach einer erneuten israelischen ethnischen Säuberungsaktion zu nutzen.

Nur drei Tage nach dem Hamas-Angriff erklärten Beamte der Regierung Biden öffentlich, dass sie mit ungenannten Drittländern Vereinbarungen getroffen hätten, um palästinensischen Zivilisten eine sichere Ausreise aus dem Gazastreifen zu ermöglichen.

Alles deutet darauf hin, dass Israel wieder einmal ernsthaft eine massive ethnische Säuberungsaktion in Erwägung zieht, die blitzschnell und mit Unterstützung der USA durchgeführt werden soll, um sich über internationale Einwände hinwegzusetzen.
Die Frage ist, ob jemand bereit oder in der Lage ist, sie aufzuhalten.
1.November 2023

Quelle: defenddemocracy.press/israel-palestine-war-mounting-evidence-suggests-israel-may-be-ready-to-cleanse-gaza/

Defend Democracy ist ein Portal der Delphi Initative, die verschiedene europäische Wissenschaftler im Zuge der Eurokrise in Griechenland gebildet haben.

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