›Ich weiß nicht, wie man dieses System bekämpft, aber ich fang jetzt damit an‹
Wie im ukrainischen Gesundheitswesen eine neue Gewerkschaft entstanden ist
von Angela Klein
Auf Initiative der Gruppe „Solidarität mit den Gewerkschaften in der Ukraine – Humanitäre Hilfe“ reiste vom 9.-14.10. 2023 eine Gruppe von vier GewerkschafterInnen aus Deutschland und der Schweiz in die Ukraine. Das Ziel der Reise war, mit so vielen verschiedenen Gewerkschaften und gewerkschaftlichen Initiativen wie möglich Kontakt aufzunehmen und aus erster Hand Informationen über die Situation abhängig Beschäftigter in verschiedenen Branchen zu sammeln. Diese Informationen sollen helfen, in eigenen Gewerkschaften für einen engen Austausch und für eine solidarische Unterstützung der ukrainischen KollegInnen zu werben. Eines unserer Treffen führte uns ins Haus der Journalistenunion in Kiew zu Vertreterinnen von #BeLikeNina, einer von Krankenschwestern neu gebildeten Gewerkschaft in den Krankenhäusern.
Im 1.Stock erwartet uns ein Empfangskomitee von sieben Frauen und einem Mann. Pizza, Tee, Kaffee, Wasser stehen auf dem Tisch. An der Wand hängt eine Bildergalerie von Soldaten an der Front, erbeuteten Waffen, Szenen der Zerstörung. Jede Gewerkschaft, gleich welcher Orientierung, sieht es derzeit als eine ihrer Hauptaufgaben, ihre Mitglieder an der Front in jeder erdenklichen Weise zu unterstützen: Es werden Päckchen mit warmen Socken, Thermowäsche, schusssicheren Westen, Uniformen, Schlafsäcken, Nachtsichtgeräten u.ä. gepackt; es wird Geld gesammelt für die Behandlung von Kriegstraumata.
An diesen Bemühungen beteiligt sich die ganze Bevölkerung. Im Gegensatz dazu stehen himmelschreiende Zustände im Gesundheitswesen, die eine adäquate Grundversorgung, selbst der Soldaten, unmöglich machen.
Das Gesundheitswesen ist in der Ukraine noch staatlich, daneben entwickelt sich aber bereits eine Privatindustrie. Laut Gesetz müssen mindestens 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Gesundheit ausgegeben werden, seit der Unabhängigkeit wurden 3 Prozent selten überschritten. Das System ist massiv unterfinanziert, es ist weiter geplant, die Zahl der Krankenhäuser zu verringern, etwa für Tuberkulose, Epidemien und psychisch Kranke. Für Menschen, die außerhalb der Stadtzentren leben, sind Krankenhäuser unerreichbar geworden, Notfallpatienten werden abgewiesen. Und es gibt riesige Lohnunterschiede zwischen Ärzten und Krankenschwestern oder Pflegepersonal.
Nina Bondar verdiente als voll ausgebildete Krankenschwester weniger als den Mindestlohn, nämlich 3500 Hrywnja (UAH – 38 UAH sind 1 Euro; der Mindestlohn wurde zuletzt im Oktober 2022 von 6500 auf 6700 UAH erhöht). Um über die Runden zu kommen, musste sie drei Jobs machen und kam auf einen Arbeitstag von 12 bis 14 Stunden.
Tonja Schazylo verdient in einer 30-Stunden-Woche 1387,46 UAH, das sind etwa 32 Euro pro Woche.
Diese Frauen haben von der alten Gesundheitsgewerkschaft, die seit den Sowjetzeiten besteht, keine Unterstützung bekommen. Diese Gewerkschaft kümmert sich mehr um die Elite, die Ärzte, und klammert den großen Sektor des jüngeren medizinischen Personals wie Nina, Krankenschwestern und Pflegepersonal aus.
Nina Bondar berichtet, wie die Initiative #BeLikeNina vor diesem Hintergrund zustande gekommen ist.
Die Anfänge
Nina Koslowska, Krankenschwester an einem Krankenhaus der Region Kiew, hatte im November 2019 auf Facebook (FB) dazu aufgerufen, auf die Straße zu gehen. »Eines nachts kam ich nach Hause von der Arbeit, öffnete Facebook und schrieb mir alles von der Seele: unter welchen Bedingungen wir arbeiten, was unsere Löhne sind«, erzählte sie später. Innerhalb von 24 Stunden wurde der Post 24.000 retweetet. Nina rief zu einer Protestwelle auf, aber viele hatten Angst, selber öffentlich zu protestieren oder Kritisches auf FB zu schreiben, sie fürchteten Abmahnungen. Zum Teil wussten sie auch nicht, dass sie auch Rechte haben und dass die Gewerkschaft dazu da ist, diese Rechte zu schützen. Die Angst galt es zu überwinden.
Nina schrieb deshalb: Kommt mir mir, wenn ihr Angst habt. Es kamen einige Frauen dazu. Am 19.Dezember 2019 stellten sich in ihrer Berufskleidung mit einem Transparent vor das ukrainischen Parlament. Bei dieser ersten Aktion machten 100 Personen mit, auch Ärzte und Studierende schlossen sich an. Sie trugen Gesichtsmasken mit der Aufschrift: »Wir sind keine Sklaven.« Das Transparent war mit blutroter, zerfließender Schrift bemalt. Für die Öffentlichkeit und die Beteiligten war das ein Schock, unerhört.
Danach wurde beschlossen, eine FB-Gruppe zu gründen, sie hieß von Anfang an: »Sei wie Nina«. Die Initiative fand Nachahmer:innen in vielen ukrainischen Städten und so organisierten sie Aktionen am gleichen Tag und zur gleichen Zeit. Ihre Kritikerinnen blickten auf sie herab und vermuteten eine Partei dahinter.
Die Frauen haben dann versucht, eine gesamtukrainische Gewerkschaft zu gründen. Das stieß aber auf große Hindernisse, das Justizministerium, bei dem der Antrag auf Bildung einer neuen Gewerkschaft eingereicht wurde, fand viele Verfahrenshindernisse für ihre Eintragung, der Prozess dauerte fast ein Jahr. So mussten sie sich erst einmal juristischen Beistand organisieren, die Kollegen von Sozialnyj Ruch haben ihnen dabei geholfen, ihnen aber geraten, zunächst einmal Gewerkschaften in den einzelnen Krankenhäusern verschiedener Städte zu bilden und diese zum Verein #BeLikeNina zusammenzuschließen. Er zählt jetzt 80000 Mitglieder. Nun wollen sie eine Allukrainische Gewerkschaft der Gesundheitsarbeiter:innen gründen.
Aus allen Ecken
Olga Turotschka hat eine eigene Geschichte. Sie ist Kinderchirurgin in Schostka in der Region Sumy. Das liegt nahe der russischen Grenze, es hat dort schwere Kämpfe gegeben. Sie arbeitet seit 15 Jahren am Krankenhaus. Im Jahr 2022 wurde sie zur Vertreterin der offiziellen Gewerkschaft gewählt.
Irgendwann hat sie bemerkt, dass Gelder aus Gewerkschaftsbeiträgen verschwinden, das hat sie dem Gewerkschaftsvorsitzenden gemeldet. Da hat der Krankenhausdirektor sie Zusicherung gerufen und ihr einen Deal angeboten, wenn sie die Sache vertuscht. Das hat sie abgelehnt und er hat ihr mit schweren Folgen gedroht. Daraufhin erstattete sie beim Staatsanwalt Anzeige wegen Unterschlagung und wandte sich an den Sicherheitsdienst SBU.
Am 26.Januar 2023 wurde sie nach 15 Jahren wegen Nichterfüllung ihrer Arbeitspflichten entlassen. Das hat bei ihr eine Depression ausgelöst. Als ihre Mutter davon erfuhr, machte sie die Geschichte von Olga auf Facebook öffentlich. Olgas Mutter ist in der ganzen Ukraine bekannt, sie trägt den Titel »Verdiente Krankenschwester der Ukraine«. Der Post hat eine Riesenwelle der Unterstützung ausgelöst, zumal Olga die einzige Kinderchirurgin an ihrem Ort ist. Nun soll sie wieder eingestellt werden. Im Internet hat sie Kontakt zu #BeLikeNina gefunden. Die sind zu ihr gekommen und haben mit ihr eine Gewerkschaft im Krankenhaus gegründet.
Tonja Schazylo hat noch eine andere Geschichte. Sie kommt aus Ukrainka aus dem Rayon Obuchiw im Oblast Kiew und arbeitete als Radiologin auf der gynäkologischen Station. Es ist das einzige Strahlenlabor dieser Art für einen Stadtteil mit 30000 Leuten. Als sie gegen die Zustände protestierte, gab der Staat Geld, um die Verhältnisse zu verbessern. Das hat die Klinikleitung aber verschwinden lassen. Tonja wurde wegen ihrer Proteste am 21.6.2021 entlassen, ohne Geld und ohne Perspektive.
Daraufhin ist sie per Facebook an die Öffentlichkeit gegangen und hat geschrieben: Sie weiß nicht, wie man dieses System bekämpft, aber sie fängt jetzt damit an. So wurde #BeLikeNina auf sie aufmerksam, mit Unterstützung von Sozialnyj Ruch wurde ein Anwalt organisiert und Klage gegen die Kündigung erhoben. Die Sache ging durch drei Instanzen, in allen hat Tonja gewonnen. Sie wurde, zusammen mit anderen Krankenschwestern, wieder eingestellt und hat in ihrem Krankenhaus eine Gewerkschaft gegründet. Diesmal war das Justizministerium behilflich, während die Klinikleitung sich gegen stellte. Jetzt warten 500 Beschäftigte in ihrem Krankenhaus auf die Registrierung der Gewerkschaft, damit sie ihr beitreten können.
Jetzt werden auch Frauen an die Front eingezogen. Einige verlassen deshalb die Ukraine, was den Personalmangel noch erhöht. Und der Lohn bleibt schlecht.
Für einen Bericht über die Arbeitsbedingungen an deutschen Krankenhäusern blieb leider keine Zeit. Wir haben uns mit einer Spende und dem festen Vorsatz verabschiedet, nach Möglichkeiten einer dauerhaften Zusammenarbeit zu suchen.
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