Too big to fail, too weak to lead
von Ingo Schmidt
Das Land ist zutiefst gespalten. Seine Freiheit und Wirtschaftskraft werden von den Großmachtambitionen Russlands und Chinas bedroht. Diese zwei Behauptungen finden sich in fast allen Berichten aus den USA, gleich ob es um die nächste Zinsentscheidung der Zentralbank, Haushaltsquerelen im Kongress, Staatsbesuche im Weißen Haus oder Waffenlieferungen des Pentagon geht.
Die erste Behauptung ist eine eher oberflächliche Feststellung. Kulturkämpfe und politische Ränkespiele in Washington sorgen regelmäßig für Verunsicherung an der Wall Street. Geht der US-Regierung das Geld aus oder nicht? Bleiben US Treasury Bonds eine sichere Anlage oder nicht? In einem Punkt aber herrscht weitgehend Einigkeit zwischen Demokraten, Republikanern und der überwiegenden Mehrheit ihrer Anhänger: Die USA müssen die Nr.1 sein. Sie werden, so die frühere Außenministerin Albright, als »unverzichtbare Nation« betrachtet, müssen aber zu alter Größe zurückgeführt werden. Entsprechend zog Donald Trump 2015 mit dem Slogan »Make America Great Again« in den Präsidentschaftswahlkampf. Unter dem gleichen Slogan wurde Ronald Reagan 1980 zum Präsidenten gewählt und anschließend zum Symbol des Wiederaufstiegs der USA zur unbestrittenen Weltmacht und damit unverzichtbaren Nation.
Doch es klafft eine Lücke zwischen Wollen und Können. Die konnte auch Joe Biden nicht schließen, der im Wahlkampf 2020 versprach, das von Trump anvisierte Ziel endlich zu erreichen. Sein Wahlkampfslogan: »Build Back Better«. Dafür bot er den Amerikanern, unter Bezugnahme auf Franklin D. Roosevelt, einen Green New Deal an. Damit konnte er zwar die Wahlen gewinnen, aber keinen gesellschaftlichen Konsens erreichen, der auch Teile seiner politischen Gegner einbezogen hätte.
Auch international werden die USA nicht als unverzichtbare Führungsmacht angesehen. Die vielbeschworene Einheit des Westens ist brüchiger, als Treueschwüre aus Europa vermuten lassen. Die Atommacht Russland und die Wirtschaftsmacht China werden als Bedrohung wahrgenommen, weil sie nicht zur vollständigen Übernahme amerikanischer Geschäftsbedingungen gezwungen werden können – ein für die USA schwer zu ertragendes Zeichen der Schwäche.
Der freie Markt und sein Staat
Als der US-Kapitalismus zuletzt schwächelte, sahen Teile der US-Gesellschaft hoffnungsvoll in die Zukunft. Arbeiter-, Frauen-, Bürgerrechts- und Friedensbewegung waren im Aufwind. Viele ihrer Forderungen wurden von der Bourgeoisie jedoch als Bedrohung ihrer Profite und ihrer internationalen Vormachtstellung angesehen.
Diese Rolle war durch die aufsteigenden Exportmächte Deutschland und Japan, die Entspannungspolitik in Europa und die Forderungen nach einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung aus dem globalen Süden schon genug bedroht. Die Aufgabe der Golddeckung des Dollar und daran gebundener Wechselkurse, der OPEC-Preisschock, der Rückzug aus Vietnam und der Sturz des Schah symbolisierten die Schwäche des US-Kapitalismus in den 70er Jahren. Inflationäre Verteilungskämpfe, Überkapazitäten und Stagnation waren die zugrundeliegenden ökonomischen Probleme. Gelöst wurden sie durch eine Mischung aus starkem Staat und freiem Markt.
Freiheit wird verstanden als die Fähigkeit amerikanischer Kapitalisten, ihr Geld unbehelligt investieren und ihre Waren verkaufen zu können. Die Freiheit des Geschäftemachens konnte nur ein starker Staat herstellen. Der amerikanische Staat erwies sich dieser Aufgabe gewachsen.
Drastische Zinserhöhungen der Zentralbank führten weltweit zu Rezession und Massenarbeitslosigkeit. Die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften wurde gebrochen. Viele Länder des Südens wurden durch den Zinsschock in Schuldenkrisen gestürzt, die USA wurden zum sicheren Hafen internationaler Geldanlagen. Über Weltbank und IWF konnten sie in den überschuldeten Ländern des Südens Privatisierungen sowie den Abbau von Sozialleistungen und Gewerkschaftsrechten durchsetzen. Eine Politik, die sie auch im Inland verfolgten, während Konzerne und obere Einkommensschichten mit Steuergeschenken verwöhnt wurden. Dazu gab es massive Rüstungsaufträge. Eine neue Runde des Rüstungswettlaufs mit der Sowjetunion und die Unterstützung von Contras in Zentralamerika, dem südlichen Afrika und der islamistischen Mudjaheddin in Afghanistan positionierten die USA als Avantgarde im Kampf gegen Kommunismus und Antikolonialismus.
Vom Kalten Krieg zur Globalisierung
Reagan hatte mit dem neoliberalen Umbau des US-Kapitalismus begonnen und den Export neoliberaler Politik im Zuge der Schuldenkrise im Süden nach Kräften gefördert. Zur Globalisierung des Neoliberalismus kam es aber erst nach dem Ende des Sowjetunion und der Neuorientierung der KP Chinas.
In geringem Umfang wurden Produktionsstätten schon vorher verlagert, in Länder des globalen Südens, deren billige Arbeitskräfte dank neoliberaler Strukturanpassung für den Weltmarkt produzieren konnten. Aber auch in die Südstaaten der USA, in denen Gewerkschaftsrechte im Gegensatz zu den industriellen Zentren des Nordostens nicht einmal in Ansätzen existieren. Zudem wurden japanische Firmen von der US-Regierung gedrängt, den Export von Fertigprodukten aus Japan zu begrenzen und stattdessen Produktionsstätten in den USA zu errichten – selbstverständlich gewerkschaftsfrei und unter Verwendung der in ihrem Stammland entwickelten Just-in-Time- und Gruppenarbeitsmethoden.
Doch erst infolge der Öffnung Chinas für den Weltmarkt kam es zu Produktionsverlagerungen großen Stils. Forschung und Entwicklung, Finanzierung und Kontrolle internationaler, vor allem aber transpazifischer Wertschöpfungsketten blieben in den USA und verhalfen einer zahlenmäßig kleinen, medial aber sehr präsenten Mittelklasse zu Jobs. Jobs in der Fertigung wurden eher in China und ein paar anderen Ländern des Südens geschaffen. Oder sie fielen der Automation in zum Opfer. Dafür entstanden massenhaft schlecht bezahlte Dienstleistungsjobs.
Trotz Lohnsenkungen für viele, stagnierender Löhne für einige und steigender Einkommen für wenige und trotz einer langfristig sinkenden Akkumulationsquote (d.h. dem Anteil der Investitionen am Bruttoinlandsprodukt) wurden die USA gerade in den Jahren der Globalisierung zur internationalen Konjunkturlokomotive. Nicht zuletzt weil das Prinzip ausgeglichener Haushalte für sie nicht galt. Da der Dollar dank Petro-Dollar-Recycling in den 70ern und Schuldenkrise in den 80er Jahren wieder unumstrittene internationale Leitwährung war, konnten die USA – der Staat ebenso wie private Haushalte und Unternehmen – nahezu unbegrenzt Kredite in anderen Ländern aufnehmen und damit auch die Leistungsbilanzdefizite finanzieren, die auf Seiten der Überschussländer zum Konjunkturmotor wurden.
Sozialismus fürs Kapital, Austerität fürs Volk
Die Krux der schuldengetriebenen Akkumulation bestand darin, dass sie gar nicht als solche wahrgenommen wurde. Steigende Wertpapierkurse galten in den 90er Jahren als Ausweis steigender realer Vermögen – Produktionsstätten, Infrastruktur, Immobilien. Der schuldenfinanzierte Erwerb solcher Vermögen ist kein Problem, solange diese Vermögenswerte ausreichend Erträge für Zins- und Tilgungszahlungen abwerfen. Tatsächlich überstiegen die erwarteten Profite die realisierten immer mehr. Private Haushalte, die ihren Konsum, einschließlich Immobilienerwerb, aufgrund stagnierender oder fallender Löhne über Schulden finanzierten, hatten nie eine Chance, ihre Schulden zurückzuzahlen. Zudem wurden immer mehr Finanztitel auf ein und denselben realen Vermögensbestand ausgegeben und über Kredite erworben. Die Zeit der Derivate und ihrer Finanzierung über Schnellballsysteme hatte begonnen.
Das Ende der Dot.com-Spekulation 2001 war ein Warnschuss, die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 machte die Grenzen des von den USA gemanagten Modells schuldengetriebener Akkumulation klar. Staatsgelder zur Sanierung bankrotter Banken und Zentralbankgeld zum Nulltarif dämmten die Krise ein, führten zu einer neuen Spekulationsblase, aber kaum zu realer Akkumulation. Statt den USA wurde China zur internationalen Konjunkturlokomotive. Ein ökonomischer Fakt, den viele Amerikaner als Schmach empfanden. Es entstand eine Massenbasis Enttäuschter und Verunsicherter, die Trump für seinen aggressiven Nationalismus mobilisieren konnte.
Über Trumps Rhetorik sollte nicht vergessen werden, dass schon Obama die Wende vom Krieg gegen den Terror zur Eingrenzung und Zurückdrängung Chinas und Russlands einleitete. Der Krieg gegen den Terror war von dem Gedanken getragen gewesen, dass die USA als unverzichtbare Nation die Aufgabe hätten, die ganze Welt nach ihrem Bilde umzugestalten, zur Not mit Gewalt. Ohne Erfolg. Ungeliebte Regime konnten zerstört, die vom Krieg überzogenen Länder aber nicht als Prosperitätszonen in den US-kontrollierten Weltmarkt integriert werden. Die Neueingruppierung Russlands und Chinas als Gegner statt Partner nimmt den Anspruch der Weltgestaltung zurück. Auch wenn dies nicht eingestanden wird.
Obama, Trump und Biden verfolgen alle das Ziel, wenigstens die von ihnen als demokratisch erachtete Welt zusammenzuhalten – unter US-Führung. Die dazu verwendeten Mittel, Stellvertreterkriege und Sanktionen, untergraben jedoch die neoliberale Globalisierung, die die USA von Reagan bis Clinton zur weltweiten Nr.1 gemacht hat.
Ingo Schmidt ist marxistischer Ökonom und lebt in Kanada und in Deutschland.
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