…und fachbereichsübergreifende Organisierung bei Ver.di
Gespräch mit Nonni Morisse
Zunehmend gelingt die gewerkschaftliche Organisierung entlang der Lieferkette bei Amazon. Doch für einen bundesweiten Durchbruch müsste die fachbereichsübergreifende Zusammenarbeit bei Ver.di gestärkt werden. Violetta Bock sprach mit Nonni Morisse, Ver.di-Sekretär für Amazon in Niedersachsen/Bremen.
Wie ist die Situation bei Amazon?
Die deutsche Amazon-Expansion der letzten Jahre ist erstmal gestoppt. Einige neue Standorte wurden nicht eröffnet, obwohl sie fertig gebaut waren, ein Lager bei Berlin wird sogar geschlossen. Amazon investiert gerade verstärkt in andere Märkte – sehr massiv in Indien, aber auf niedrigerem Niveau auch in europäischen Nachbarländern.
Etabliert hat sich die Paketzustellung in Eigenregie. Seit 2019 beginnt der Konzern, die letzte Meile der Paketzustellung in einigen Ländern selber zu übernehmen und nur noch einen Teil des Paketvolumens über externe Paketdienstleister zu verteilen. Es wurden eigene kleine Sortier- und Verteilzentren eröffnet. Die Zustellung von dort an die Haustür erfolgt aber immer noch komplett über Subunternehmen. Für unsere gewerkschaftliche Arbeit bedeutet das, dass wir den Fokus auf die gesamte Lieferkette legen müssen, die Organisierung an der Lagerstandorten allein reicht nicht aus. Außerdem fordern wir bundesweit ein Verbot der Auslagerung an Subunternehmen.
Wie ist gerade die gewerkschaftliche Situation?
Die Lagerstandorte sind seit zehn Jahren in einer Streikbewegung aktiv und fordern bisher die Anerkennung der Tarifverträge im Einzel- und Versandhandel. Wir haben knapp die Hälfte der Amazon Lagerstandorte in Deutschland organisiert. Wenn wir da zu Streiks aufrufen, kann der Konzern allerdings sehr leicht länderübergreifend auf andere Standorte ausweichen und vor allem auf der letzten Meile weiter Pakete zustellen, weil wir dort mit dem Aufbau gewerkschaftlicher Strukturen erst am Anfang sind. Wir verstärken daher den Fokus auf die Lieferkette und die Sortier- und Verteilzentren. So ist auch meine Stelle im Ver.di-Landesbezirk Niedersachsen/Bremen bereichsübergreifend entstanden.
Gelingt das?
Es gelingt sehr gut über die Gründung von Betriebsräten, um den Belegschaften über die betriebliche Mitbestimmung überhaupt eine erste Kontrolle über den Prozessablauf zu ermöglichen. Für Amazon ist Flexibilität alles. Der Konzern hat eine so enorme Marktmacht, so dass er nicht unmittelbar mit allem, was er tut, schwarze Zahlen schreiben muss, sondern viel ausprobieren und dabei Daten sammeln kann. Was zählt, ist dabei die möglichst schnelle Auslieferung der Pakete an die Kundschaft. Deshalb ist Amazon auf der letzten Meile sehr stark angreifbar und wir können die Bedürfnisse der Mitarbeiter:innen über Gewerkschaft und Betriebsräte in den Mittelpunkt rücken. Mit der Deutungshoheit über die Arbeitszeitgestaltung, die Abwehr von verpflichtenden Überstunden, den Arbeits- und Gesundheitsschutz im Sinne eines guten Lebens auch neben der Arbeit können wir Maßstäbe setzen, die auch bei noch nicht organisierten Standorten zum Vorbild werden.
Wurden schon Betriebsräte auf der letzten Meile gegründet?
Ja, wir haben bundesweit mittlerweile Betriebsräte in einem Sortierzentrum und drei Verteilzentren. In einem vierten, in Sehnde bei Hannover findet die erste Betriebsratswahl am 19.Dezember statt. Weitere Standorte sind bereits mit Ver.di-Mitgliedern vertreten, vernetzen sich untereinander und machen sich ebenfalls auf den Weg.
In Niedersachsen und Bremen haben wir vor fast zwei Jahren angefangen, Amazon-Standorte zu organisieren. Da haben wir ein Modell aufgebaut, das von Anfang an die Beschäftigten der verschiedenen Standorte miteinander in Kontakt bringt und vernetzt. Jeder Standort, der dazukommt, bekommt von Anfang an auch die Erfahrungen aus den anderen Standorten mit – gerade auch in der Phase von Betriebsratswahlen. Dabei beschränken wir uns nicht auf Teilbereiche, weil der Konzern nicht in jeder Sparte unterschiedlich reagiert, sondern nach militärischem Vorbild einheitlich aufgebaut ist und so die Führungskräfte vor Ort zentrale Anweisungen bekommen. Dagegen müssen unsere Gewerkschaftsstrukturen bestehen können.
Welche Strategie verfolgt Ver.di, um bei der überregionalen Vernetzung weiterzukommen?
Ver.di hatte bundesweit nach dem Start der Amazon Zustellung in Eigenregie die Organisierung dieser Standorte an den Ver.di-Fachbereich Postdienste, Speditionen und Logistik übertragen. Das war für diesen am Anfang Neuland, nachdem über die Lagerstandorte in den Jahren zuvor nur der Ver.di-Fachbereich Handel aktiv war. Diese Fachbereiche haben sehr unterschiedliche gewerkschaftliche Traditionen und führen jeweils starke Abwehrkämpfe gegen die Arbeitgeber, um ihre jeweiligen Flächentarifverträge zu verteidigen und auszubauen.
In den Ver.di-Fachbereichen ist es manchmal schwierig zu vermitteln, dass Amazon als Konzern einheitlich agiert und die Beschäftigten gar keine »Fachbereichsidentität« wollen, sondern sagen: Wir gehören alle zusammen und wollen diesen Kampf auch gemeinsam führen. Diese Botschaft ist inzwischen auf der Ver.di-Bundesebene angekommen, und es gab auf dem letzten Bundeskongress zumindest vereinzelt Signale in den Bewerbungsreden von Bundesvorstandsmitgliedern für einen gemeinsamen »Schlachtplan« bei Amazon. Die Amazon-Betriebsräte und aktiven Ver.di-Mitglieder sind bundesweit alle miteinander vernetzt und machen sich dafür stark, dass die Ver.di-Fachbereiche bei Amazon zusammenarbeiten und sich auch mit den Gewerkschaften anderer Länder abstimmen. Das passiert auf weltweiten Kongressen von der Kampagne »Make Amazon Pay« oder bei Vernetzungen über den weltweiten Gewerkschaftsverbund uni global.
Bisher ist unseren Aktiven das ganze aber noch viel zu sehr auf »besondere Anlässe« beschränkt. Die Vernetzung zu Alltagsproblemen im Weltkonzern findet eher in selbstorganisierten Zusammenhängen wie den Amazon Workers International (AWI) statt. In unserem Ver.di-Amazon-Netzwerk in Niedersachsen/Bremen unterstützen wir AWI ausdrücklich und machen gerade gute Erfahrungen mit dem Verteilen der AWI-Zeitung The Amazon Worker. Für mich ist AWI eine gute Ergänzung unserer gewerkschaftlichen Arbeit. Finanzielle Ressourcen und Stellenpläne in Gewerkschaften können gestoppt werden, aber Arbeiter:innen, die sich eigenständig vernetzen, sind nur ihren eigenen Kolleg:innen im Betrieb gegenüber Rechenschaft schuldig, mit wem sie sprechen oder an welchen Treffen mit anderen Initiativen sie teilnehmen.
Bei euch in der Region gibt es deine Stelle, die eine Schnittstelle zwischen den Ver.di-Fachbereichen ist. Gibt es solche Stellen auch woanders?
Ja, bundesweit wurden ein paar solcher Amazon-Projektstellen bei Ver.di aufgebaut, allerdings durch einzelne Landesbezirke und Landesfachbereiche. Wir arbeiten jetzt daran, uns auch bundesweit zu koordinieren, wie wir diese Projektstellen nutzen. Wir wollen das nicht dem Zufall überlassen. Amazon hat eigene Union-Busting-Abteilungen und eigene Strategien, um Gewerkschaften zu bekämpfen, also brauchen auch wir gewerkschaftlich zusätzliche Ressourcen, wenn wir die Aktiven stärken wollen in ihrem Kampf. Meiner Erfahrung nach sind die fachbereichsübergreifenden Projektstellen eine sehr gute Möglichkeit dafür. Das ist auch eine Forderung der ehrenamtlichen Ver.di-Aktiven bei Amazon, diese in jedem Bundesland einzuführen.
Erzählst du noch ein Highlight des Jahres?
Dass unsere Bemühungen Früchte tragen, zeigt sich an unserem Organisierungserfolg im Lager HAM2 in Winsen (Luhe). Der Standort gehört zu den etwas neueren Lagern, hat aber trotzdem schon ein paar Jahre auf dem Buckel und dementsprechend viele entfristete Kolleg:innen. Amazon stellt zu Anfang an neuen Standorten fast alle nur befristet ein. Als meine Projektstelle startete hatte Winsen bei fast 2000 Beschäftigten nur rund 60 Ver.di-Mitglieder, allerdings einen sehr starken Zusammenhalt besonders aus der arabischen Community. Sie konnten den Ver.di-Fachbereich Handel 2022 überzeugen in einen ersten Streik zu treten. Mittlerweile gibt es an dem Standort nach nur einem Jahr über 500 Ver.di-Mitglieder und sie sind im Betrieb so stark, dass niemand mehr Angst haben muss, sich zur Gewerkschaft zu bekennen.
Ihre Bewegung ist ein tolles Beispiel für migrantische Organisierung im Betrieb. Die über 80 Prozent Kolleg:innen im Betrieb, die aus verschiedenen Ländern, oft erst vor fünf bis zehn Jahren eingewandert sind, sprechen viele verschiedene Sprachen, aber sie eint das Ziel für ihre Arbeit respektiert und gut bezahlt zu werden. Darauf wollen sie nicht warten, sondern kämpfen.
Ein Highlight haben wir zahlenmäßig kleiner bei rund 150 Beschäftigten auch im Verteilzentrum Wunstorf bei Hannover geschafft. Hier sind inzwischen die meisten der entfristeten Eigenbeschäftigten Ver.di-Mitglieder und die Gewerkschaft ist kein Tabu mehr. Seit kurzem gibt es sogar in jeder Schicht gewerkschaftliche Vertrauensleute. Auch der neue Betriebsrat in Bremerhaven und der Wahlvorstand für die Betriebsratsgründung in Sehnde machen eine tolle Arbeit und erkämpfen sich Stück für Stück die Mitbestimmung. In Achim haben wir einen Lagerstandort, indem bisher eine arbeitgebernahe Mehrheit im Betriebsrat agiert und leider sogar der Kündigung ihres eigenen Ver.di-BR-Kollegen Rainer Reising zugestimmt hat, aber selbst dort gibt es eine stabile Anzahl von Ver.di-Mitgliedern in der Belegschaft, die sich z.B. für eine bessere Verkehrsanbindung nach Bremen einsetzen.
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