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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2023

Der unverzichtbare Gegner
von Ingo Schmidt

Der lange Wirtschaftsaufschwung hat China für westliche Außenpolitiker zu einer Herausforderung, einer Gefahr, wenn nicht zum Gegner werden lassen. Viele Wirtschaftspolitiker teilen diese Meinung, machen sich aber zugleich Sorgen, dass das Ende des China-Booms die Konjunktur im Westen abwürgt. Nachdem Immobilien- und Finanzkrise in den USA die Weltwirtschaft 2008 in eine nur mit Mühe eingedämmte Rezession gestürzt haben, wurde China zum unverzichtbaren Motor der Kapitalakkumulation. Auch im Westen.

Die Feindseligkeit des Westens gegenüber China nimmt zu, seit dieser Motor ins Stottern geraten ist. Gleichzeitig pumpt die US-Regierung massiv Geld in die Wirtschaft und konnte damit eine drohende Rezession vorerst verhindern, ist aber weit davon entfernt, ihre frühere Rolle als globaler Wachstumsmotor wieder einzunehmen. In dieser Rolle ist China unverzichtbar, spielt sie nach der Corona-Rezession aber nicht so verlässlich wie in den Jahren nach der Weltwirtschaftskrise 2008/09.
Den weltmachtgewohnten Politikern des Westens fällt es schwer, ihre ökonomische Abhängigkeit vom Emporkömmling China einzugestehen. Ebenso schwer ist es, ihre zunehmend feindselige Haltung mit der lange gepflegten Ideologie von Frieden und Wohlstand durch freien Welthandel in Übereinstimmung zu bringen. Deshalb sagt die aktuelle Berichterstattung über China weniger über tatsächliche Entwicklungen in China aus als über die widersprüchlichen Beziehungen zwischen China und den alten imperialistischen Zentren. Das Land dient als Projektionsfläche. Die »orientalischen Geschichten«, die im Westen über China erzählt werden, geben einen Einblick in die Ängste und Wünsche der Erzähler.

Projektionsfläche
Oft wird auf den Staatskapitalismus verwiesen, um China als »das Andere« zu kennzeichnen. Dieser weicht von den vom Westen gesetzten Normen eines liberalen Kapitalismus bzw. einer freien Marktwirtschaft ab. Entsprechend häufig sind die Vorwürfe, China halte sich nicht an die Regeln des freien Wettbewerbs und übervorteile dadurch seine westlichen Geschäftspartner. Die dann in purer Notwehr »ihre« Staatsoberhäupter um Schutzmaßnahmen bitten müssen. Die zentrale Rolle des Staates bei der Entstehung und Reproduktion des Kapitalismus im Westen wird dabei unterschlagen. Ebenso wie Kolonialismus und Imperialismus, die dem westlichen Kapitalismus zu Weltherrschaft und Extraprofiten verholfen haben und immer noch verhelfen.
Stattdessen wird China immer mal wieder als kolonialistische oder imperialistische Macht gebrandmarkt. Von Liberalen, weil Staaten, anders als Märkte, »naturgemäß mit Machtstreben verbunden sind und in China nun mal der Staat das Sagen hat. Von Konservativen, weil China ein kommunistischer Wolf im marktwirtschaftlichen Gewand und der Kommunismus von allen Formen der Staatsherrschaft die herrschsüchtigste sei.
Schließlich kommt der Kolonialismus-Imperialismus-Vorwurf auch von einigen westlichen Marxisten, die in China ein Land sehen, dessen Herrschende einen besonders ausbeuterischen Kapitalismus unter Floskeln vom Sozialismus mit chinesischen Eigenschaften zu verbergen suchen.
Links der Mitte gab es immer mal wieder Stimmen, die meinten, vom der staatlichen Wirtschaftslenkung in China ließe sich, auch wenn man das politische System nicht mag, etwas lernen. Dagegen haben Liberale stets gewarnt, die massiven Interventionen westlicher Staaten weiterhin ignorierend, dass jeder Schritt der Staatseinmischung in die politische Knechtschaft führe.
Die Debatte hat sich gewandelt, seit im Westen über Industriepolitik gesprochen wird und US-Präsident Biden seine Wirtschaftspolitik offen vom Neoliberalismus seiner Vorgänger abgrenzt und sich in der Tradition von Roosevelts New Deal und Johnsons Great Society verortet, obwohl seine Ansätze zur Sozialreform im Inneren deutlich bescheidener als jene Roosevelts und Johnsons sind. Dafür gehen sie mit einer Militarisierung der Außenpolitik einher, die China und Russland als autoritären Gegner des freien Westens definiert.

Export-Boom
Nichts ist von den früheren, insbesondere von Clinton artikulierten Hoffnungen geblieben, China durch Aufnahme in die WTO zur Übernahme der maßgeblich von den USA geprägten Regeln des Welthandel zu bringen. So dass China, ähnlich wie Deutschland und Japan, ein wirtschaftlich großes, aber politisch den USA untergeordnetes Land würde. Geknüpft war diese Hoffnung an den faustischen Pakt, den die chinesische Staats- und Parteiführung mit den US-Kapitalisten nach dem Zusammenbruch der UdSSR eingegangen waren. Letztere versprachen sich von Produktionsverlagerungen in das Billiglohnland China satte Extraprofite und von der Ausbreitung von Markt und Privateigentum die Zersetzung der Herrschaft der KP. Die KP Chinas setzte auf das Gegenteil: Durch den Rückzug auf die Kommandohöhen der Wirtschaft suchte sie ihre politische Macht zu erhalten und das Land zu einem Wirtschaftsriesen zu machen, der auch von der Supermacht USA nicht nach Belieben herumgestoßen werden könnte.
Die vor allem auf die Binnenwirtschaft zielenden Marktreformen der 80er Jahre hatten bereits einen Aufschwung ausgelöst. Gegen Ende des Jahrzehnts sanken die realen Wachstumsraten aber, während die Inflation in die Höhe schnellte – einer der Gründe für die Tiananmen-Proteste 1989. Nach deren Niederschlagung und der Wende zum Weltmarkt kam es zu einem neuerlichen, wieder mit steigenden Inflationsraten verbundenen Aufschwung.
Nach dem Beitritt zur WTO schnellten die realen Wachstumsraten ohne inflationäre Nebenwirkungen in die Höhe. Aber auch Investitionsquote und Exportüberschüsse stiegen in nie gekannte Höhen. US-Politiker, die noch vor kurzem Produktionsverlagerungen nach China als gutes Geschäft gepriesen hatten, vergossen Krokodilstränen über den Verlust amerikanischer Arbeitsplätze. Und sorgten sich darüber, dass die Importdefizite mit zunehmenden Schulden gegenüber China einhergingen.

Höhere Löhne und boomende Investitionen
Nachdem der Krach am US-Immobilienmarkt eine Weltwirtschaftskrise ausgelöst hatte, klagte der US-Zentralbankchef Bernanke, China habe die USA mit Krediten überschwemmt und damit viele eigentlich nicht kreditfähige Haushalte zur Schuldenaufnahme verleitet. Aber die Annahme, der Schuldner USA sei genauso von Gläubigern abhängig wie die Länder des verschuldeten Süden von ihren westlichen Gläubigern war falsch. Wie die Anlage chinesischer Exportüberschüsse in Dollar zeigt, war der Dollar immer noch Weltwährung. Deshalb mussten sich nicht die USA um die Rückzahlung der aufgelaufenen Schulden machen. Der Gläubiger China musste sich um die Bedienung der an die USA vergebenen Kredite sorgen. US-Forderungen, die chinesischen Exportüberschüsse und die damit verbundene Schuldenaufnahme zu begrenzen, fanden deshalb auch in Peking Gehör. Umso mehr als die Nachfrage nach chinesischen Fertigwaren während der Weltwirtschaftskrise massiv eingebrochen war.
Eine Möglichkeit, den Anteil der Exporte an der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage zu senken, bestand in der Erhöhung der Löhne und damit der inländischen Konsumtion. Dazu ist es auch gekommen, nicht zuletzt weil die Überausbeutung in den Exportindustrien zu massenhaften Streiks geführt hatte. Die Lohnquote stieg von 2010 bis 2016 von 54 auf 58 Prozent und lag damit nur noch ein Prozent unter dem Wert, den die Planer unter Mao festgelegt hatten und der auch in den 80ern, dem Jahrzehnt der Marktreformen im Innern, erreicht wurde.
Den entscheidenden Anteil an der Verringerung der Abhängigkeit vom Außenhandel hatten allerdings Investitionen in Immobilien und Infrastruktur, im Inland und seit Beginn des Projekts Neue Seidenstraße 2013 auch im Ausland. Die Außenhandelsquote konnte von einem 2007 erreichten Höchstwert von 64,5 Prozent auf 38 Prozent 2022 gesenkt werden – auf den Wert im Jahre des WTO-Beitritts bzw. den doppelten Wert aus der Zeit der Wende zum Weltmarkt in den frühen 90ern. Dafür kletterte die Investitionsquote, die schon während des Exportbooms von 2001 bis 2007 von 33 auf 38 Prozent gestiegen war, auf einen Höchstwert von 45 Prozent 2013. Seither ist sie auf 42 Prozent gesunken, eine Folge der massiven Überkapazitäten, die angesichts der beispiellosen Investitionen der Vorjahre entstanden sind. Die Überkapazitäten haben auch zu einem Rückgang des Wachstums der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage geführt.

Aussicht auf Stagnation
Nach dem Ende des Exportbooms hat sich China von der merkantilistischen Werkbank der Welt zum Motor der Weltwirtschaft gewandelt. Andere Kandidaten für diese Rolle sind nicht in Sicht, China kann sie nicht länger spielen, weil die bereits bestehenden Überkapazitäten die Rendite künftiger Investitionen in Produktionsanlagen, Immobilien oder Infrastruktur nach unten drücken. Es steht eine Stagnationsphase bevor, in der China weder Exporteur noch Wachstumsmotor sein kann, angesichts der wirtschaftlichen Größe und technologischen Fähigkeiten, die das Land in diesen beiden Rollen erreicht hat, aber zu einem potenziellen Rivalen der bisherigen Weltmacht USA geworden ist. Und von deren Kapitalisten und Regierenden als Herausforderung oder Gegner gesehen werden muss, weil sie sich der Grundlagen ihrer Herrschaft nicht sicher sein können.

Ingo Schmidt ist marxistischer Ökonom und lebt in Kanada und in Deutschland.

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