Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2023

Solidarität ist keine Sonntagsrede
Ein Aufruf

Wir stehen vor einem Scherbenhaufen, an einem autoritären Kipppunkt. Es ist Zeit sich zu entscheiden: Für eine Verteidigung der offenen Gesellschaft oder für ein Abgleiten in den Autoritarismus.
Was in jahrzehntelangen antirassistischen und antifaschistischen Kämpfen erreicht wurde, ist in den letzten Monaten beispiellosen Angriffen ausgesetzt, ohne dass ein Ende in Sicht wäre.

Die gesellschaftliche Linke und bislang engagierten Kräfte sind sprachlos und schaffen es nicht, sich diesen rasanten Entwicklungen entgegenzustellen. Und die migrantische Zivilgesellschaft steht auf einmal fast alleine da, so ausgegrenzt und abgeschnitten, wie wir es noch vor wenigen Monaten für unmöglich hielten. Das ist ein Skandal und muss sich ändern. Solidarität ist gefragt, die mehr denn je auch Risikobereitschaft und Klarheit erfordert. Die offene Gesellschaft ist jetzt keine Sonntagsrede mehr.
Von rechtsaußen braut sich eine immer größere Bedrohung zusammen. […] Die AfD ist kein gesellschaftliches Randphänomen mehr. Und ihre menschenverachtenden Positionen sind keine gesellschaftlichen Ausreißer. Im Land der Täter:innen der NS-Rassen- und Vernichtungspolitik wählen ein Drittel der Wahlberechtigten eine Partei, die Anderssein stigmatisiert, Abweichungen verbannen will und Illusionen eines Zurück zur weißen patriarchalen Kleinfamilie als Hort von Sicherheit und Geborgenheit nährt.
Doch das ist nur die eine Hälfte des Problems. Es geht einher mit der Radikalisierung und dem Rechtsruck der Mitte der Gesellschaft. Durch die Parteienlandschaft hinweg erleben wir eine massive Diskursverschiebung nach rechts, eine kaum für möglich gehaltene Enthemmung der Sprache und Entrechtung – und dies nicht erst seit dem jüngsten Höhenflug der AfD. Das zugrundeliegende Problem ist eine Politik, die keine Antwort auf die entscheidenden Krisen der Welt – Krieg, Klimawandel und globale Ausbeutung – findet. Eine Politik, die stattdessen seit Jahr und Tag, wenn es opportun ist, die Geschichte der Migration in diesem Land zurückdrehen will. Sie nährt Steuerungs- und Kontrollphantasien und nutzt Geflüchtete als Sündenböcke, um vom eigenen politischen Versagen abzulenken.
Auch die Grünen tragen anscheinend schmerzlos die Entmenschlichung und die Militarisierung mit – nicht nur in der Migrationspolitik. Sie reiten auf der rechten Welle mit, in der Hoffnung zu überleben. So wird in einem europäischen Einwanderungsland Migration erneut zum Problem erklärt, obwohl sie ein Kernelement des ökonomischen Reichtums, der kulturellen Modernisierung und der Demokratisierung ist. Der Rassismus der Politik soll dieses Problem »lösen«. Doch die Geschichte der Migration lässt sich nicht zurückdrehen. Und das ist auch gut so! […]
Migration ist die Mutter aller Gesellschaften. Für die vielbeschworene »Überforderung« der Kommunen ist nicht Migration, sondern eine seit Jahren vernachlässigte Sozial- und Bildungspolitik verantwortlich. Es ist ebenso eine Fiktion, dass Migration ohne die Preisgabe grundlegender demokratischer Prinzipien aufzuhalten wäre. Simplizistische Modelle der Push- und Pull-Faktoren sind seit Jahren widerlegt. Fluchtgründe wie Armut, Ausbeutung und Kriege verschwinden nicht, wenn Menschen in Deutschland möglichst unwürdig behandelt werden. Die Rufe nach einer immer stärkerer Ordnungspolitik klammern sich an die verzweifelte Hoffnung, dass sich die Folgen der sich überlagernden Polykrisen wie Klimakrise und die damit verbundene Zunahme unbewohnbarer Orte, Imperialismus und Kriegspolitik durch eine weitere Militarisierung und Abschottung vor den Toren halten lassen.
Spaltungen und Entsolidarisierung mit den von Rassismus und von Antisemitismus betroffenen Menschen vertiefen sich derzeit. Dies verhindert eine entschlossene Anteilnahme mit allen Opfern, deren Leid nicht gegeneinander ausgespielt werden darf. Jüdisches Leben in Deutschland muss geschützt werden – doch Antisemitismus bleibt vor allem ein deutsches und kein migrantisches Problem. Antisemitismus und Rassismus dürfen nicht gegeneinander ausgespielt oder als Rechtfertigung für rassistische Ausgrenzungs- und Abschiebungspolitiken herangezogen werden.
Wir lassen uns die offene Gesellschaft und die in ihr erkämpften Rechte nicht nehmen. Unsere Solidarität ist und bleibt unteilbar.

Der Aufruf wurde von verschiedenen antirassistischer Gruppen verfasst (ungekürzt auf www.medico.de/die-offene-gesellschaft-verteidigen).

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