Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2023

Der Gleichheitsgrundsatz ist unabdingbar, wenn wir über eine echte Koexistenz nachdenken wollen
Gespräch mit Michael Warschawski/aus L’Humanité

Der israelische Aktivist Michael Warschwaski ist Autor mehrerer Werke, in denen er die Besetzung und Kolonisierung Palästinas anprangert, und Gründer der NGO Alternative Information Centre, die Aktivist:innen aus Israel und Palästina zusammenbringt.

Das Interview erschien in L’Humanité vom 2.11.2023

Der 7.Oktober war das größte Massaker an Juden seit dem Zweiten Weltkrieg. Was halten Sie von dem Paradoxon eines Staates, der geschaffen wurde, um bedrohten Juden in der ganzen Welt einen sicheren Hafen zu bieten, der sich aber als unfähig erwiesen hat, die Sicherheit seiner Bürger zu schützen und zu gewährleisten?

Es gibt ein sehr treffendes Bild von dem englischen jüdischen Historiker Isaac Deutscher. Ein Flüchtling wird von jemandem gejagt, der ihn mit einem Messer bedroht. Er betritt das erste Haus, das ihm begegnet, um Zuflucht zu suchen. Doch anstatt zu sagen: »Es tut mir leid, ich riskiere hier draußen mein Leben, ich muss eine Weile bei Ihnen bleiben«, beginnt er sofort, die Hausbesitzer von der Eingangshalle ins Wohnzimmer, vom Wohnzimmer in die Küche und schließlich in die Speisekammer zu drängen. Und am Ende sagt er: »Das hat mir schon immer gehört.«
Hier wurde keine Entscheidung für Asyl oder Zuflucht getroffen, sondern eine für die Rückkehr und die Ideologie, die ihr aufgepfropft wurde. Ich hoffe, dass wir heute in der Lage sein werden, uns zusammenzureißen und uns für den gesunden Menschenverstand zu entscheiden.

Einige Leute in Israel befürworten den Austausch der von der Hamas im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln gegen palästinensische Gefangene. Was ist Ihre Meinung dazu?

Ich hoffe, dass es möglich sein wird, eine solche Einigung zu erzielen. Leider sind diese Stimmen isoliert, während die politische Klasse und ein großer Teil der öffentlichen Meinung von Arroganz getrieben sind, was nicht gut ist. Yonatan Ziegen, Sohn der Friedensaktivistin Vivian Silver, die seit dem Hamas-Anschlag vom 7.Oktober vermisst wird, wiederholt, dass Rache keine Strategie ist.

Kann man das heute in Israel hören?

Das scheint mir gesunder Menschenverstand zu sein… Aber das Land steht am Abgrund. Es gibt viele Menschen, die so denken, die aber im Moment noch schweigen. Nicht nur, weil sie Angst haben, sich zu äußern, sondern auch, weil sie sich rechtfertigen müssen, erklären müssen, dass dies nicht bedeutet, die Hamas zu unterstützen, usw.

Viele Friedensaktivisten in Israel sagen, sie hätten noch nie eine so katastrophale Situation erlebt. Teilen Sie diese Ansicht?

Diejenigen, die das sagen, sind entweder jung oder haben ein kurzes Gedächtnis. Ich behaupte nach wie vor, dass unter diesem Gesichtspunkt das Schlimmste vorbei ist. Zwischen 1967 und dem Jom-Kippur-Krieg erlebten wir eine Zeit des totalen nationalen Konsenses. Andersdenkende waren eine absolute Minderheit, galten als verrückt, und es dauerte bis 1973, bis den Menschen die Augen aufgingen und sie sagten: »An dem, was ihr sagt, ist etwas Wahres dran.« Aber es stimmt, es ist lange her, dass wir Momente der Isolation für Stimmen des »gesunden Menschenverstands« hatten, nicht einmal für radikale Stimmen. Heute scheinen diese Stimmen der Vernunft vor allem von den Familien und Angehörigen der Geiseln und der Opfer des von der Hamas am 7.Oktober verübten Massaker angeführt zu werden. Für sie geht es nicht um Parolen, sondern um das Konkrete, um die Realität.

Haben die religiösen Rechtsextremisten, die Millennialisten und die Siedler jetzt die Macht in Israel?

Die Siedler haben viel Macht, genug, um die Regierungspolitik zu lenken. Allerdings liegt die Macht in Israel auch in den Händen der High-Tech-Industrie, deren Interessen nicht mit denen der Siedler übereinstimmen. Aus der Sicht des modernen Kapitalismus ist die Politik, die die Siedler vertreten, nicht gut für die Wirtschaft. Es gibt eine Spaltung innerhalb der herrschenden Kräfte in Israel, die in unterschiedliche politische Richtungen gezogen werden.

Die israelische öffentliche Meinung befürwortet mit überwältigender Mehrheit den Krieg in Gaza. Wie können unter diesen Bedingungen die Stimmen des Friedens, die nach einer politischen Lösung rufen, gehört werden?

Auch ohne die Siedler zu erwähnen, gibt es mehr als ein Israel. Es gibt Tel Aviv, eine Stadt, eine Gesellschaft und eine Kultur, die dem Konflikt den Rücken kehrt, auf das Meer hinausblickt und sich als europäische Blase mit hohem Lebensstandard sieht. Und dann gibt es ein anderes Israel, die armen Städte wie Sderot, die gerade jetzt am meisten zu leiden haben. Dort leben die meisten Einwanderer aus Nordafrika, die empfänglicher für nationalistische Rhetorik sind und glauben, ihre verlorene Würde wiederzuerlangen – das ist ganz normal. Das ist ein Phänomen, das Israel fast seit Menschengedenken begleitet.

Wäre diese zersplitterte israelische Gesellschaft bereit, den Preis für die hohen Verluste an Soldaten zu zahlen, die eine Bodenoffensive in Gaza mit sich bringen würde, und möglicherweise auch den Preis für einen regionalen Flächenbrand?

In Tel Aviv eindeutig nicht. Der Beweis dafür sind die Einwohner dieser Stadt, die heute das Land verlassen. Sie wollen eindeutig Netanyahu loswerden.

Der Kommunikationsminister Shlomo Karhi hat gedroht, diejenigen strafrechtlich zu verfolgen und ihr Eigentum zu beschlagnahmen, die im Verdacht stehen, »dem Feind in die Hände zu spielen«. Der Abgeordnete Ofer Cassif wurde wegen seiner Opposition gegen den Krieg in Gaza aus der Knesset ausgeschlossen. Wie analysieren Sie diese neuen autoritären Auswüchse?

Diese Entwicklung überrascht mich nicht, aber sie beängstigt mich: Der Verfall ist brutal und sehr schnell. Es gibt keine gemeinsame Wertebasis. Es gab schon immer einen tiefen Riss in der israelischen Gesellschaft, aber dieser Riss geht noch tiefer. Ich bin oft nach den Risiken eines Bürgerkriegs gefragt worden: Ich habe immer gesagt, das sei nicht möglich. Heute bin ich mir da viel weniger sicher. Und das hat nichts mit Gaza zu tun. Es gibt nicht nur zwei soziologische Israels. Wir haben es mit zwei unversöhnlichen Gesellschaftsprojekten zu tun. Mit der schwächsten Regierung, die wir je an der Spitze des Landes hatten, und mit Netanyahu, der nicht in der Lage ist, seine Minister zu kontrollieren, von denen einige wahnsinnig sind.

Der Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir lässt 15000 Waffen an Siedler und Zivilisten in gemischten Städten verteilen. Ist er auf einen Flächenbrand im Westjordanland und sogar in Israel aus?

Darin spiegelt sich der Wunsch eines großen Teils der öffentlichen Meinung und der politischen Klasse wider, die Nakba zu vollenden: »Wir haben es ’48/49 nicht geschafft, vielleicht schaffen wir es jetzt.« Die Palästinenser sehen das, was in Gaza geschieht, als Wunsch, einen Teil der Bevölkerung aus dem Gebiet auf den Sinai zu vertreiben… Und es kommt auch einigen israelischen Führern in den Sinn. Vor ein oder zwei Jahren hätte ich gesagt: »Das sind Träume von Narren«, heute kann man nichts mehr ausschließen.
Die israelische Friedensbewegung bezog einst ihre wahre Stärke aus ihrem jüdisch-arabischen Charakter. Wir hatten 20 Prozent der Bevölkerung hinter uns. Im Jahr 2000 brach diese Front auseinander und die Araber kamen nicht mehr nach Tel Aviv, um zu demonstrieren. Die Juden waren die Wortführer, die Araber waren die Masse bei diesen Demonstrationen. Die Palästinenser in Israel sagen uns: »Wenn ihr demonstrieren wollt, kommt zu uns. Wir werden nicht mehr mit euch demonstrieren.« Das ist eine schwere Niederlage.

Im Jahr 2001 haben Sie ein Buch mit dem Titel »Israel/Palästina: die binationale Herausforderung« geschrieben. Glauben Sie immer noch an diesen Horizont?

Ich habe nie von einer »binationalen Lösung« gesprochen, sondern von einer Herausforderung. Was auch immer geschieht, was auch immer das politische Ergebnis sein wird – ein Staat, eine Föderation, zwei Staaten, niemand kann das vorhersagen – es gibt zwei Einheiten, zwei Gemeinschaften, die hier leben.
Wenn wir eine friedliche Lösung wollen, müssen diese beiden Entitäten unabhängig vom politischen Rahmen existieren können. Und das setzt Gleichheit voraus, was das Schwierigste ist, denn der Ausgangspunkt ist eine Situation völliger Ungleichheit. Dieser Gleichheitsgrundsatz ist unabdingbar, wenn wir über eine echte Koexistenz nachdenken wollen.
Was ihre Form betrifft… Der Talmud sagt: »Seit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem wurde die Prophetie den Kindern und den Armen im Geiste gegeben.« Ich bin kein Kind mehr und ich hoffe, ich bin nicht arm im Geiste. Deshalb halte ich mich mit Prophezeiungen zurück. Ich weiß nicht, was langfristig die beste Lösung sein wird.

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