Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2023

›Die Gewerkschaft ist die Avantgarde des Volkes‹
von Angela Klein

Vom 9. bis 14.Oktober 2023 reiste eine Gruppe von vier Gewerkschafter:innen aus Deutschland und der Schweiz in die Ukraine. Die Reise wurde organisiert von der Initiative »Solidarität mit den Gewerkschaften in der Ukraine – Humanitäre Hilfe« und finanziell gefördert von der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt. Es wurden eine Solidaritätsadresse und Spendengelder übergeben, die die Initiative gesammelt hatte. Es haben sich Ansätze für weitere Unterstützungsarbeit ergeben, die wir in unseren Gewerkschaften fortsetzen wollen. Erste Berichte wurden in SoZ 11/23 veröffentlicht.

Tag 1 in Kiew: Wir kommen morgens bei schönstem Wetter an und werden von Alexander und Oleg von der Unabhängigen Eisenbahnergewerkschaft abgeholt, sie machen auf Anhieb einen sympathischen Eindruck.

Geplant ist ein Treffen ist mit der Bildungsgewerkschaft im Gewerkschaftshaus. In Vorgesprächen haben sie gesagt, sie sprechen nur Ukrainisch. Doch sie haben einen Übersetzer ins Englische gerufen, er arbeitet für mehrere Gewerkschaften.

Das Gewerkschaftshaus war während der Orangen Revolution und dem Euromaidan die Zentrale der Oppositionsbewegung. Am 19.Februar 2014 wurde es von Getreuen der Regierung Janukowitsch angegriffen und in Brand gesteckt. Bis 2018 wurde es wieder aufgebaut und komplett modernisiert. So schnell geht die Modernisierung der Gesellschaft nicht vor sich, vor allem ist umstritten, welche Richtung sie einschlagen soll; die Auseinandersetzung darum geht mit einer wachsenden sozialen Ungleichheit einher.

Die Bildungsgewerkschaft gehört zum Dachverband FPU, der schon vom Habitus her noch old style ist: Der schon ältere Präsident führt den Vorsitz und das Wort, flankiert von Stellvertreter:innen und Sekretärinnen, die sekundieren.

Erst einmal sind sie erstaunt, wen sie da vor sich haben und was wir von ihnen wollen. Wir sagen unser Sprüchlein auf: Wir wollen in Deutschland jenseits der Waffendiskussion und der geopolitischen Fragen dafür werben, auf unterer Ebene praktische Solidarität mit den Gewerkschaften in der Ukraine zu üben und in den Austausch mit ihnen treten. Dafür wollen wir soviel Informationen wie möglich sammeln.

Zunächst zeigen sie uns die Zerstörungen, die der Krieg an Bildungseinrichtungen aller Art, vom Kindergarten bis zur Hochschule, anrichtet, materiell wie personell. Sie haben einen kleinen Film vorbereitet und liefern Zahlen: Über 3000 Bildungseinrichtungen sind zerstört, viele Lehrkräfte und Studierende sind in den Westen gegangen. Dafür wurden die aus den besetzten Gebieten in den freien Teil der Ukraine evakuiert. Die meisten Lehrkräfte brauchen psychologische Unterstützung.
Sie klagen hauptsächlich über zwei Dinge:
– Es fehlen Schutzräume gegen Bombenangriffe an Schulen und Universitäten, das hat die Studierenden zu Protestaktionen veranlasst.
– Die Löhne sind so niedrig, dass die Lehrtätigkeit nur von Frauen ausgeübt werden kann, deren Männer einen besser bezahlten Job haben. Die meisten Männer weigern sich, für so wenig Lohn zu arbeiten. Die Löhne müssten soweit angehoben werden, dass Studierende nicht mehr ins Ausland abwandern bzw. wieder zurückkommen.

Modell Deutschland
Die berufliche Bildung ist im Umbau. Noch ist sie öffentlich. Es gibt aber Bestrebungen, sie in die Hände der Unternehmen zu legen. Es geht um eine Grundsatzentscheidung: Soll Berufsausbildung Teil des öffentlichen Bildungssystems sein, wie in Deutschland oder in der Schweiz, oder Sache der Unternehmen, wie in den USA und vielen anderen Ländern? Die Gewerkschaft muss auf diesem Feld ihre Rolle, ihren Standpunkt noch finden, sagen sie. Das deutsche duale System der Berufsausbildung betrachten sie jedenfalls als erstrebenswert. Aus unserer Delegation kommt der Rat, dem US-Modell nicht zu folgen, für die Vermittlung der notwendigen Kenntnisse bieten wir Unterstützung an.

Dass das deutsche Sozialsystem ein Vorbild ist, begegnet uns mehrmals. So noch am selben Tag im Gespräch mit Sozialnyj Ruch (SR). Dort treffen wir auf eine Mitarbeiterin der FPU, die sich in Deutschland in den kommenden Monaten vom Umgang mit Erwerbslosen und der Arbeitsweise der Jobcenter ein Bild verschaffen will. Gemessen an den Verhältnissen in der Ukraine scheint ihnen das ein großer Fortschritt zu sein. Als wir dann aber auf den Arbeitszwang hinweisen und auf die Tatsache, dass dieser und der chronische Mangel an Arbeitsplätzen für einen Niedriglohnsektor verantwortlich sind, der inzwischen ein Fünftel der lohnabhängigen Bevölkerung umfasst, gerät sie doch ins Grübeln.

Bei ArcelorMittal werden wir ebenfalls mit dem Problem Ausbildung konfrontiert. Die FPU-Gewerkschaft im Betrieb arbeitet eng mit der Staatlichen Hochschule für Wirtschaft und Technik zusammen; deren Dozenten sind wiederum in der Metall- und Bergbaugewerkschaft organisiert.
Das Ausbildungszentrum von ArcelorMittal wurde durch russische Raketenangriffe zerstört. Jetzt kann man Neues aufbauen, nicht nur mit modernen Geräten, sondern auch mit einer zeitgemäßen Konzeption. Dazu wünschen sich Gewerkschaft und Hochschule den Austausch mit dem Ausbildungszentrum in Eisenhüttenstadt und die Vermittlung der IG Metall. Unser Metall-Betriebsrat sagte Unterstützung zu.

Den Beschäftigten der Elektro­industrie wiederum droht ein System der Lohnfindung nach US-Modell. Kriegsbedingt ist ihr Unternehmen noch staatlich, das soll sich aber ändern. Eine Unternehmensberatungsfirma berät die Geschäftsleitung jetzt schon, wie die Produktivität erhöht werden kann. Die Gewerkschaft bereitet sich deshalb auf die Privatisierung vor und lässt sich von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Workshops zeigen, wie Tarifverhandlungen geführt werden, wie das deutsche Mitbestimmungsmodell aussieht usw. Der Systemwechsel kann erst fünf Jahre nach dem Kauf eingeführt werden. Bis dahin wollen sie Mindeststandards durchsetzen:
– eine Lohnerhöhung (sie sprechen von 15 Prozent);
– die Weiterführung der bestehenden Kultur- und Sozialeinrichtungen, die sollen nicht verkauft werden;
– einen Tarifvertrag.
»Die Gewerkschaft war anfänglich gegen die Privatisierung«, sagt der Vorsitzende Oleksander Dawydenko, aber dann hat sie gesehen, dass die Privaten mehr investieren als der Staat, es sei auch leichter, mit ihnen zu verhandeln. Mit dieser Position sind die Elektroarbeiter nicht allein, auch die Unabhängigen Mediziner in Krywyj Rih sind nicht gegen die Privatisierung von Krankenhäusern.

Internationale Zusammenarbeit?
Wurden wir bei der Bildungsgewerkschaft anfänglich mit höflicher Skepsis beäugt, was wir denn wollten, so äußern sie am Schluss richtig Freude, dass wir gekommen sind, um uns anzuhören, was sie zu sagen haben. Unser Besuch sei ein Hoffnungsschimmer und stimme sie optimistisch. Sie wünschen sich einen stärkeren Austausch mit der GEW. Das freut uns wiederum, denn es gibt noch etwas anderes als den Krieg, nämlich die internationale Zusammenarbeit von unten.

Man gibt sich nicht die Klinke in die Hand in Kiew. Der letzte Besuch bei der Bildungsgewerkschaft war im Mai 2023 von einer Delegation des Europäischen Gewerkschaftsbunds. Ein Jahr vorher hatte die Lehrergewerkschaft aus den USA vorbeigeschaut. Das war’s auch schon. Bei ArcelorMittal ist man voll des Lobes über Hilfslieferungen, die die IG Metall Bremen zu Anfang des Krieges organisiert hat. Doch die Konvois wurden bis zur polnisch-ukrainischen Grenze begleitet, persönlich vorbeigeschaut hat niemand.
Die Unabhängige Bergarbeitergewerkschaft (NGPU) in Krywyj Rih (KR) berichtet von drei Konvois je von den Gewerkschaften Solidaires aus Frankreich, CGT und Cobas aus Spanien; der letzte kam im Mai dieses Jahres und brachte eine Bestellung von Schutzwesten, Drohnen, Funkgeräten und anderer Ausrüstung für die Soldaten. Die Mediziner in KR haben bislang Hilfe nur von unserer Initiative und von Austrians for Ukraine erhalten.

Gewerkschaften im Umbruch
Der Vorsitzende der FPU, Hryhorij Osowyj, zeigt »Verständnis für die vor­übergehende Einschränkung der Arbeitsrechte«, das sei kriegsbedingt. Aber er äußert auch die Sorge, dass die Gesetze nach dem Krieg weiter in Kraft bleiben, »da sind wir dagegen«. Dann könnte es allerdings zu spät sein.
Die Stillhaltepolitik muss sich rächen, weil die Gewerkschaftsmitglieder nicht darauf vorbereitet werden, dass die Unternehmer und ihre Regierung die Kriegssituation nutzen, um massive Angriffe gegen eine durch das Kriegsrecht gefesselte Arbeiterschaft durchzusetzen und sich so auf ihre Weise auf die Nachkriegszeit vorbereiten.

Das macht Sozialnyj Rukh anders. Auch dieser »sozialen Bewegung« sind natürlich ein stückweit die Hände gebunden. Aber sie hat einen Weg gefunden, wie sie trotzdem die Rechte der Arbeiter:innen verteidigen kann: Sie berät kämpfende Kolleg:innen juristisch und hilft ihnen, ihre Rechte vor Gericht einzuklagen. Dar­in ist sie ziemlich erfolgreich – auf diese Weise hat sie u.a. protestierenden Krankenschwestern, die wegen ihrer Proteste entlassen wurden, zur Wiedereinstellung und damit letztlich zum Aufbau der Gewerkschaft ­#BeLikeNina verholfen.

Auf dem Papier war das sowjetische Arbeitsrecht, das in der Ukraine noch weitgehend gilt, viel fortschrittlicher als unseres. Das hing mit der starken Stellung der Gewerkschaften zusammen, die zwar Transmissionsriemen der (Einheits-)Partei und ihrer Regierung waren, aber mit den Beiträgen, die sie kassierten – und das war viel Geld, weil die Gewerkschaftsmitgliedschaft im Betrieb obligatorisch war –, wichtige soziale und kulturelle Einrichtungen für die Belegschaften finanzierten wie etwa Rehamaßnahmen, Einrichtungen für junge Familien, Studierende, Waisen und Tschernobyl-Opfer, Ferienheime für Kinder und Erwachsene, Kulturzentren usw. – Aufgaben, für die bei uns der Staat bzw. private Institutionen zuständig sind.

Diese Aufgaben erfüllen die Gewerkschaften teilweise heute noch; aus dieser Rolle heraus haben sie sich auch von Anfang an dafür verantwortlich gefühlt, ihren Mitgliedern an der Front mit Ausrüstung und Lebensmitteln zur Seite zu stehen und den Familien über die Runden zu helfen.
Sie hatten aber auch weitgehende Mitspracherechte bei der Gestaltung der Arbeitsbeziehungen und Arbeitsbedingungen und konnten sich als vollwertige Partner eines Betriebs­direktors betrachten, gegen deren Einspruch kaum etwas durchzusetzen war. Das gab ihnen eine Machtstellung, auch gegenüber der Regierung, die hiesige Gewerkschaften trotz aller Mitbestimmung nicht kennen.

Nach der Wende kam das unter Beschuss – durch die Privatisierungen, die Bildung mehrerer Parteien, andere politische Veränderungen.
Seit 2017/18 aber, also seit der Regierungszeit des »Schokoladenkönigs« Poroschenko, der vom Euromaidan nach oben gespült wurde, wird das Arbeitsgesetz systematisch untergraben. »Die Arbeitgeber haben jetzt alle Rechte«, klagt der Präsident der Bauarbeitergewerkschaft. Zuletzt wurde ihnen auch das Recht zugesprochen, sich nicht an Kollektivverträge halten zu müssen und stattdessen Individualverträge abzuschließen.

Bei ArcelorMittal, dem indischen Konzern mit Sitz in Luxemburg, der in Krywyj Rih ein bedeutendes Eisen- und Bergwerk betreibt, hat das dazu geführt, dass die Geschäftsleitung den Kollektivvertrag, der Ende des Jahres ausläuft, nicht mehr wie gewohnt verlängert, sondern in 26 Punkten kündigt. Wenn es der Gewerkschaft nicht gelingt, das abzuwenden, sieht sie sich gezwungen, trotz des Kriegsrechts in den Streik zu treten (siehe SoZ 11/23).
Für eine FPU-Gewerkschaft ist das ungewöhnlich. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass bei Arcelor Mittal eine jüngere Frau ihren Vorsitz führt. In jedem Fall zeigt es, dass die staatstragende Haltung, die ihnen nachgesagt wird, Risse bekommt und sie ihre Rolle überdenken müssen.

Bei den unabhängigen Gewerkschaften, die wir getroffen haben, aber auch bei Nichtregierungsorganisationen steht die FPU im Ruf, die Dachorganisation von »Bananengewerkschaften«, also gelben Gewerkschaften zu sein. Ihnen wird Untätigkeit gegenüber ihren Mitgliedern an der Front und ein Kuschelkurs gegenüber der Regierung und den Unternehmern vorgeworfen. Sie würden sich mehr um die Rettung ihres Vermögens als um Arbeitsbedingungen und Arbeitsrechte kümmern.

Sehr nach vorn gestellt hat die Vermögensfrage allerdings nur der Vorsitzende der FPU: Er klagt, selbst das Gewerkschaftshaus – Symbol für zwei Revolutionen in der Ukraine in der Nachwendezeit, weil sich hier die Opposition getroffen hat –, solle ihnen weggenommen werden. Der Vertreter der Arbeiterwohlfahrt (AWO) meint dazu, die Gewerkschaftsführung sei verschiedentlich selber an der Privatisierung ihres Vermögens beteiligt, deren Erlöse würden dann in die Taschen der hohen Funktionäre wandern. Auch Olga Turotschka von #BeLikeNina beklagt die Unterschlagung von Gewerkschaftsgeldern.

Offiziell bekennt sich die Regierung zum sozialen Dialog auf Landesebene und hat eine Nationale Dreiparteienkommission (Tripartite) einberufen. Doch sie nimmt nicht an ihr teil und maßt sich an, Vertreter, die Unternehmer und Gewerkschaften in diese Kommission schicken, zurückzuweisen und von ihnen zu verlangen, dass sie neue benennen. Die FPU hat das getan, die Unternehmer haben sich geweigert und boykottieren nun ebenfalls den Prozess.

Es gibt in den FPU-Gewerkschaften »keine erkennbare innergewerkschaftliche Opposition«, sagt Jurij Samojlow von der NPGU. Doch so, wie sie unter Druck gerät, wird sich ihr Selbstverständnis ändern müssen. Auch dem FPU-Vorsitzenden Osowyj ist bewusst, dass die Führungsebene jünger und weiblicher werden muss.
Dem Nationalen Jugendverband der FPU brennt diese Frage naturgemäß am meisten unter den Nägeln. Die Vorsitzende Iwana zerbricht sich den Kopf, wie sie neue Mitglieder für die Gewerkschaft gewinnen kann und will einen Organizingprozess dafür anstoßen. Sie sucht dazu den Austausch mit Gewerkschaftsjugendlichen in anderen europäischen Ländern.

Was ist Gewerkschaft in der Ukraine?
Zu einer Gewerkschaft nach unserem Verständnis, also einer Vertretung der abhängig Beschäftigten, die von einer politischen Einflussnahme weitgehend ausgeschlossen ist und im Gegensatz zur Kapitalseite steht, müssen sich die FPU-Gewerkschaften noch entwickeln.

Traditionell verstanden sie sich als Vertretung fast der gesamten Bevölkerung. So organisieren sie immer noch die Flugzeugbauer, die Maschinen- und Werkzeugbauer (das meint die Führungskräfte; die Arbeiter in diesen Branchen sind in separaten Gewerkschaften organisiert), die Produzenten und Geschäftsleute, die Staatsbediensteten, die Arbeiter und Unternehmer in Handel und Dienstleistung, die Rechtsanwälte.

Der Erneuerungsprozess, den andere osteuropäische Gewerkschaften schon durchlaufen haben, hat in der Ukraine erst durch den Euromaidan einen besonderen Schub bekommen, weil die Gesellschaft seitdem eindeutiger nach Westen orientiert ist. Allerdings trägt er zunächst einmal zur Zersplitterung der Gewerkschaftslandschaft bei.

Schon vor der Erlangung der Unabhängigkeit haben die Bergarbeiter in ihrem großen Streik 1989 die erste unabhängige Gewerkschaft gegründet, die NPGU. Sie ist heute die wichtigste Organisation im Dachverband der Unabhängigen Gewerkschaften, der KVPU.
Daneben bilden sich zahlreiche lokale Initiativen/Organisationen, die sich alle Gewerkschaft nennen, wohinter sich aber ganz Unterschiedliches verbirgt. Sie entstehen aus lokalen Konflikten, bei denen sie sich von der staatsnahen Gewerkschaft im Betrieb im Stich gelassen fühlen, und sind naturgemäß sehr klein. Von ihnen hat nur #BeLikeNina bisher den Sprung zu einer Massenorganisation geschafft: Innerhalb von vier Jahren hat die Initiative 80.000 Mitglieder gewonnen.

Zu den kleinen Gewerkschaften gehören etwa die Unabhängige Eisenbahnergewerkschaft in Kiew, oder die Unabhängige Gewerkschaft der Mediziner in Krywyj Rih. Erstere bilden eine Art Rückgrat für das Projekt von Sozialnyj Ruch, einen Pool anerkannter Arbeitsrechtler:innen her­auszubilden.
Letztere sind keine Gewerkschaft, sie kümmern sich nicht um Arbeitsbedingungen und Löhne wie ­#BeLikeNina, organisieren nicht das weibliche Pflegepersonal sondern in der Hauptsache die vorwiegend männlichen Ärzte. Sie werden initiativ, um die Defizite in der staatlichen Gesundheitsversorgung auszubügeln, indem sie Medikamente und Apparate besorgen und dafür Spenden sammeln.

Dass sie sich Gewerkschaft nennen, mag ein Hinweis darauf sein, dass diese Organisationsform, so sehr sie auch in Teilen in Misskredit geraten ist, die einzige ist, die quer durch verschiedene Schichten breite Akzeptanz hat. #BeLikeNina schenkt uns zum Abschied ein T-Shirt, auf dem geschrieben steht: »Die Gewerkschaft ist die Avantgarde des Volkes.«

Unsere allgemeine Wahrnehmung ist: Sie wollen raus aus dem sowjetischen Mief und sie wollen beim Wiederaufbau mitreden können. Wie andere osteuropäische Länder vor ihnen erhoffen sie sich von einem Beitritt zur EU einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwung für ihr Land: höhere Löhne, besseren Arbeitsschutz, geregelte Arbeitsbeziehungen, Rechtsstaatlichkeit, einen funktionierenden Sozialstaat – und wirtschaftliche Hilfe.

Allerdings sind die politischen und wirtschaftlichen Umstände heute sehr viel andere als Anfang der 90er Jahre. Zurecht sind sie der Auffassung, dass sie die größte Last des Krieges tragen, während ihre Reichen sich ins Ausland absetzen. Dar­aus leiten sie Ansprüche ab, die im Gegensatz zu ihrer gesellschaftlichen Schwächung stehen.

Der Krieg
Alle Gewerkschaften sehen derzeit ihre Hauptaufgabe darin, ihre Mitglieder an der Front mit dem Nötigsten auszustatten. Denn im Gegensatz zu den patriotischen Reden der Regierung hat die Herstellung guter Bedingungen für die Soldaten nicht immer oberste Priorität.

Natalja Marynjuk weist gleich zu Beginn unseres Treffens auf einen langen Tisch, auf dem brandneue warme Unterwäsche, Uniformen, Schutzwesten, Rucksack und Schlafsack, Nachtsichtgeräte u.ä. ausgebreitet sind. Daran ist nichts Militaristisches, Päckchen für ihre Söhne an der Front haben auch unsere Großmütter gepackt. Und natürlich sind alle für den Sieg der Ukraine.

Darunter aber hört man Nuancen heraus: Der Rektor der Staatlichen Hochschule für Wirtschaft und Technik in KR betont die friedensstiftende Rolle der Gewerkschaften: »Das Prinzip der Gewerkschaft ist, dass Völker sich verbinden.« In der weiteren Unterredung geht es dann, wie bei den meisten anderen Treffen, um die sozialen Probleme.

Der Vorsitzende der Unabhängigen Bergarbeitergewerkschaft in KR, ­Jurij Samojlow, mag über letztere nicht reden. Er erwähnt nicht einmal, dass bei ArcelorMittal der Kollektivvertrag gekündigt wird und die 300 Mitglieder seiner Gewerkschaft in dem Betrieb damit ein dickes Problem haben – obwohl alle elf Gewerkschaften, die es in dem Betrieb gibt, sich zu einem Bündnis dagegen zusammengeschlossen haben und er dessen stellvertretender Vorsitzender ist.

Jurij will eine klassenkämpferische Arbeiterpartei gründen. Für ihn ist der Krieg eine Klassenfrage: es ist der Krieg der ukrainischen Arbeiterklasse. 99,9 Prozent derer, die kämpfen, sind einfache Leute, die will er für seine Arbeiterpartei gewinnen. Die Reichen haben sich abgesetzt, in die Schweiz oder nach Deutschland.

Wir geben zu bedenken: Die Reichen bei uns sind gerade dabei, die Ukraine unter sich aufzuteilen. Das wissen sie, sagen aber: »Unter den Reichen gibt es auch gute Leute.« Der Börsenspekulant George Soros gehört nicht dazu, er steuert die sog. Chicago-Gruppe, die Einfluss auf die Regierung hat und alles tut, um die sozialen Programme zu liquidieren.
Die Sozialministerin hat im Ausland auf einem Treffen gesagt: »Wir beginnen jetzt, die Ukrainer aus der Komfortzone herauszuholen.« Jeder würde verstehen, dass Selenskyj nicht für Arbeiterinteressen steht. Bei ArcelorMittal hingegen weist man uns mehrfach daraufhin, wo Selens­kyj in seiner Geburtsstadt Krywyj Rih alles Spuren hinterlassen hat.

Jurij sagt: An der Front herrscht eine revolutionäre Situation. Die Soldaten erheben sich gegen die soziale Ungerechtigkeit. Die Frauen und Mütter der Soldaten der 129.Brigade haben trotz Kriegsrecht zu mehreren tausend in Krywyj Rih demonstriert und die Straßen blockiert, weil die Brigade nur leicht bewaffnet an die Front geschickt und aufgerieben wurde. Es kam dann heraus, dass die Regierung für die Ausrüstung Geld zur Verfügung gestellt hatte, der Sohn des Bürgermeisters sich dieses aber in die eigene Tasche steckte. Es gebe tausende Frauengruppen für die Soldaten.
Die Nachfrage, ob sich denn der Unmut auch gegen die Militärführung richten würde, verneint er: Es sei »zu gefährlich, dafür würde man erschossen«. Außer dem genannten Vorfall habe es nichts gegeben. Doch wir wissen, dass ein Verteidigungsminister wegen Korruption gehen musste.

Zu Anfang unseres Gesprächs hatte ich Jurij gefragt, ob sie Kontakt haben zu einem Vertreter der NGPU aus Luhansk, der 2015 auf einer Veranstaltungsrundreise in Deutschland war. Nein, sie haben seit 2014 keinen Kontakt mehr in die besetzten Gebiete. Es klingt nicht danach, als würden sie sich bemühen.

Wir hatten einen in Moskau geborenen, russischen Übersetzer in unserer Delegation dabei, sein Vater war ungarischer Kommunist, Mitstreiter von Béla Kun in der ungarischen Räteregierung 1919, später Bewohner des Hotel Lux in Moskau; die Mutter stammte aus einer alten russisch-baltischen Familie. Er hat sich 1975 nach Wien abgesetzt und ist aktiv in der Partei LINKS Wien, die ein queerfeministisches Profil hat, sowie in der Initiative Russians against war. Er schreibt Briefe an politische Gefangene in Russland und versucht, Deserteuren und Wehrdienstverweigerern zu helfen.

In unseren Vorstellungsrunden hat er daraus keinen Hehl gemacht. Da musste er sich was anhören: Bei ­#BeLikeNina wurde er dafür heftig angegangen, weil sie zunächst verstanden hatten, er wolle russischen Kriegsgefangenen helfen. Doch die Kampagne für russische Deserteure interessiert sie nicht. »Das ist uns egal, wir machen da keinen Unterschied«, erklärt uns der Vertreter der Arbeiterwohlfahrt. »Es gibt keine guten Russen.«

Solange Krieg ist, wollen sie nur ukrainisch sprechen, trotzdem sprechen einige russisch mit uns. Bei Arcelor Mittal betont Natalja ausdrücklich: »Für euch machen wir eine Ausnahme.« »Lesen sie noch Dostojewski?« »Eher nicht. Die russische Kultur ist schlecht für uns, sie ist eine Waffe für die russische Politik.«

Anti-Putin, antirussisch, antisowjetisch – das ist alles eins. Auf der Rückreise fragen wir uns, wie sie zu einer nationalen Einheit kommen wollen, wenn sie ein geschätztes Fünftel der Bevölkerung aus dem Territorium, das sie für sich reklamieren, ausschließen. Das ist ein politisches Problem, kein militärisches.

Vor einigen Monaten wurde einmal eine Umfrage unter der Bevölkerung in den besetzten Gebieten veröffentlicht. Darin äußerten die Befragten Angst vor einer möglichen Befreiung durch das ukrainische Militär, Angst vor schrecklichen Vergeltungsmaßnahmen.

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