Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2023

Die Asylrechtsverschärfungen sind Ausdruck des rechten Diskurses
Gespräch mit Tareq Alaows (Pro Asyl)

Derzeit wird ein rassistischer Überbietungswettbewerb geführt. Immer mehr rassistische Ideen und Maßnahmen zur Entrechtung von Menschen hier und auf der Flucht werden in Gesetze gegossen. Eine der größten zivilgesellschaftlichen Organisationen, Pro Asyl, sagt, die Diskussion führt zu einer Entmenschlichung. Violetta Bock sprach mit Tareq Alaows.

Tareq Alaows ist 1989 in ­Syrien geboren. Er ist flüchtlingspolitischer Sprecher und Referent für Kampagnen und Netzwerkarbeit der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl.

Wie beurteilen Sie die Diskussion zum Thema Asylrecht und Migrationspolitik in Deutschland?

Wir erleben gerade eine sehr toxische Debatte in der Öffentlichkeit, die weit entfernt ist von Fakten. Die Kommunen wurden jahrzehntelang kaputt gespart. Und jetzt sind Geflüchtete da und machen dieses strukturelle Versagen beim Aufbau und dem Erhalt der Infrastruktur sichtbar. Die Politik gibt diese Fehler nicht zu, sondern greift Geflüchtete als Sündenböcke auf. In den letzten 15 Jahren etwa hat sich die Zahl der Sozialwohnungen auf eine Million im Jahr 2021 halbiert. Durch den Mangel an Schul- und Kitaplätzen gibt es lange Wartezeiten. Die Probleme sind nicht 2022 mit der Ukraine entstanden und nicht 2015, als Menschen aus Syrien und Afghanistan hier ankamen, sondern viel früher.
Diese Debatte führt zu einer Entmenschlichung. Die Menschen werden als Krise bezeichnet und als Bedrohung gesehen. Statt um Menschen mit je eigener Geschichte geht es in der Gesamtwahrnehmung um »Illegale«, um sogenannte »Irreguläre«, die kein Recht haben hier zu sein.
Diese Debatte wird nicht zu einer Lösung führen, weil sie vom eigentlichen Problem ablenkt. Tatsächlich befinden wir uns in einer tiefen soziale Krise. Die Politiker suchen nach Lösungen in der Asyl- und Migrationspolitik, während das Problem woanders liegt.
Menschen sind kein Problem, Menschen sind Menschen, keine Krisen. Wir erleben einen Wettbewerb der Entrechtung von geflüchteten Menschen. Es wird gewetteifert, wer die beste Idee hat, geflüchteten Menschen ihre Rechte zu entziehen und sie fern von Europa zu halten.
Diese Debatte begann auf der europäischen Ebene mit der Abschottung und der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) und setzt sich mit den Gesetzesänderungen hier fort: Verschärfungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht, mehr Aufbau von Kontrollen an deutschen Grenzen, Ausweitung von Haftgründen in Abschiebehaft. Und da sprechen wir über Menschen, die keine Straftaten begangen haben, sondern bei denen ein Verdacht besteht, dass sie zum Zeitpunkt ihrer Abschiebung vielleicht nicht zu Hause angetroffen werden. Deswegen inhaftiert man sie bis zu 30 Tage. Das sind alles Sachen, die gerade passieren, und oft nicht rechtmäßig.
Dazu kommen neue Regelungen, das heißt Verkürzungen und Verschärfungen im Asylbewerberleistungsgesetz, hier werden die sozialen Leistungen gekürzt. Dann die Debatte um die Bezahlkarte, die wahrscheinlich ebenfalls bald eingeführt wird. Bei letzterer gibt es noch viel Unklarheiten, klar ist aber, dass es um Kontrolle durch den Entzug von Bargeld geht. Es gibt gegen diese Beschlüsse massive verfassungsrechtliche Bedenken. Vielleicht werden sie irgendwann in zehn Jahren gekippt, aber bis dahin wurden viele Menschen entrechtet und benachteiligt.

Die Regierung handelt nicht dort, wo Bedarf ist, sondern kürzt auch noch im Haushalt 2024. Wie werden diese Maßnahmen wirken?

Der Haushaltsvorschlag der Ampel-Regierung beinhaltet u.a. massive Kürzungen bei der Migrationsberatung im allgemeinen sowie im Bereich der politischen Bildung und Demokratieförderung. Diese Kürzungen kommen zur falschen Zeit. Die Ampel-Regierung behauptet die ganze Zeit, dass die Kommunen komplett belastet, gar überlastet sind und es nicht mehr aushalten, Menschen aufzunehmen. Auch die Union behauptet das, obwohl die Situation in den Kommunen komplett unterschiedlich ist.
Wer solches behauptet, begeht einen großen Fehler, gerade zum jetzigen Zeitpunkt, wo über eine Million Menschen aus der Ukraine hier leben und etwas mehr als 200000 Asylbewerber hier angekommen sind. Die Menschen haben Bedarfe und Ansprüche, das Recht auf Beratung vor und während des Asylverfahrens. Es gibt einen großen Bedarf in den Kommunen. Wer die Kommunen entlasten möchte, baut diese nicht Strukturen ab, sondern muss die sogenannte Schuldenbremse aufheben und in den Kommunen investieren. Das ist das, was gebraucht wird.
Diese Kürzungen führen zu einem massiven Stellenabbau in der sozialarbeiterischen, psychologischen und psychosozialen Betreuung und Begleitung von geflüchteten Menschen. Das wirkt sich auch auf die Verwaltungen der Kommunen aus. Die geflüchteten Menschen warten mehrere Monate auf die Bearbeitung ihre Anträge, von denen abhängt, ob sie hier bleiben können oder nicht und ob sie eine Arbeitsstelle annehmen können. Wenn dieser Prozess schneller ginge, würden die Kommunen entlastet. Leider wird die dafür notwendige Ausweitung der Kapazitäten in den Kommunen auf Grund der Kürzungen nicht möglich sein, genauso wenig wie die Unterstützung und Beratung von Ehrenamtlichen. Die Menschen, die Tag für Tag ehren- und hauptamtlich mit den Menschen arbeiten, begegnen den Problemen vor Ort und treten der fehlenden Infrastruktur entgegen. Sie darf man nicht im Stich lassen.

Manche Maßnahmen betreffen im Moment die Geflüchteten, aber es ist absehbar, dass diese Politik auch andere Folgen haben wird. Da fragt man sich, was kommt als nächstes und: wo bleibt der Aufstand? Was macht ihr als Pro Asyl oder auch mit anderen zusammen?

Wir haben eine Petition gegen die Asylrechtsverschärfungen auf europäischer Ebene und in den letzten Monaten eine Mail-Aktion gestartet. Wir führen viele politischen Gespräche, um zu versuchen, das Schlimmste fernzuhalten. Ich habe aber persönlich das Gefühl, dass es gar nicht mehr um eine rationale, lösungsorientierte Debatte geht, sondern eher einfach um Entrechtung und Umsetzung dieser Agenda. Es ist egal, welche wissenschaftlichen Maßnahmen oder wissenschaftlichen Bewertungen dagegen sprechen. Egal, was die Leute aus der Praxis, Flüchtlingsräte oder andere Beratungsstellen vor Ort dagegen haben oder wie sie diese Maßnahmen bewerten. Mir fehlt auch der gesellschaftliche Aufstand.
Es ist an der Zeit, dass wir wieder Aktionen wie »#Unteilbar 2018« starten. Wir müssen unsere Unzufriedenheit mit der jetzigen Politik zeigen, nicht nur im Bereich Flucht und Migration, sondern auch bei der schlechten Sozialpolitik, der Ausstattung der Kommunen, der wirtschaftlichen Krise, der Inflation und den Vielfachkrisen, die die Menschen vor Ort betreffen, wie das Thema Klimaschutz. – ein themenübergreifender Aufstand aufgrund der Unzufriedenheit mit der jetzigen Politik. Auch um zu sagen, dass der Rechtsruck, der gerade massiv durch diese rechtspopulistischen Debatten gefördert wird, nicht die Lösung ist.
Es gibt auch zivilgesellschaftliche Initiativen, wie den Brief von Wissenschaftler:innen an die Bundesregierung und Bestrebungen für gemeinsame Aktionen Anfang nächsten Jahres. Wir haben iim kommenden Jahr Europawahlen und mehrere Landtagswahlen. Das Ziel ist, eine größere Kampagne zu starten, die sowohl die Zivilgesellschaft in die Pflicht nimmt, um dieser Debatte entgegenzutreten und diesen Kurs zu stoppen und klare Forderungen an die Politik zu richten.
Ich möchte an alle Menschen appellieren, alles, was aus der Politik kommuniziert wird, kritisch zu betrachten und mit den Fakten zu vergleichen. Es kursieren vor allem im Bereich Flucht und Migration viele falsche falsche Fakten, die überhaupt nichts mit der Realität zu tun haben.

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