Das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen in Argentinien ist nicht nur eine Niederlage für den Peronismus
von Fabrizio Burattini
Der Erfolg des »Libertären« Javier Milei, Kandidat der Formation La Libertad Avanza (LLA – Die Freiheit auf dem Vormarsch), in der zweiten Runde der argentinischen Präsidentschaftswahlen kündigt ein Szenario an, das es in Argentinien und in gewisser Weise in ganz Lateinamerika noch nie gab. Milei wurde mit 55,7 Prozent der Stimmen gegen 44,3 Prozent für den Peronisten Sergio Massa mit großem Vorsprung und entgegen allen Umfragen gewählt.
Bei den »obligatorischen Vorwahlen« im August war er als Außenseiter angetreten, provokant, exzentrisch, sogar mit einem unattraktiven Aussehen. Er war ein Parvenü, der weder über Führungserfahrung noch über politische Erfahrung verfügte, dem keine organisierte Partei zur Seite stand, der nur einige wenige Abgeordnete in letzter Minute aufstellte und der von keinem regionalen Gouverneur oder Bürgermeister unterstützt wurde. Auch seine »paläolibertäre Ideologie« (wie er sie nennt), die in den 1990er Jahren in den USA entstand, hat in Argentinien keine Tradition. Er liegt weitgehend auf einer Linie mit der schlimmsten extremen Rechten weltweit, weshalb er als »argentinischer Trump« bezeichnet wurde.
Ganz im Gegensatz zu dem, was populistische Führer auf der Suche nach einem Konsens normalerweise tun, präsentierte er sich mit wundersamen Versprechungen, die angesichts der unerträglichen Haushaltszwänge kaum machbar sind. Dabei waren seine Reden stets heftig antikeynesianisch und fortschrittsfeindlich, gespickt mit dem Aufruf zum Aufstand gegen die »politische Kaste«.
Das Phänomen Milei
Natürlich ist das »Milei-Phänomen« eng mit der politischen Geschichte Argentiniens verbunden, die seit jeher vom Peronismus (in seinen verschiedenen rechten und »linken« Ausprägungen) und vom Antiperonismus (ebenfalls in einer rechten und linken Form) geprägt ist. Aber es spielt auch auf ein viel breiteres und globales Phänomen an, auf ein weit verbreitetes soziales Unbehagen, auf Überdruss und Meuterei gegen die politischen und kulturellen »Eliten«, auf die Abneigung gegen eine politische Welt, die unfähig ist, mit Krisen umzugehen, und die weitgehend nur einen »einzigen Gedanken« zulässt.
Nicht nur in Argentinien gehören für einen großen Teil der öffentlichen Meinung zu dieser Elite auch die »Progressiven«, die für radikale globale Rechte kämpfen.
Einen Großteil seiner Propaganda hat Milei der Anprangerung eines angeblichen »progressiven Neototalitarismus« gewidmet sowie der Leugnung des Klimawandels und der ungeheuerlichen Verbrechen der Diktatur (1976–1983), die er als »Erfindungen der Marxisten« und ihrer »kulturellen Hegemonie« betrachtet. »Soziale Gerechtigkeit« lehnt er als eine »Monstrosität« rundheraus ab.
Seine Parolen (»Die Kaste hat Angst vor uns«, »Es lebe die Freiheit, verdammt noch mal«, »Alle nach Hause«) wurden ostentativ »unfair« eingesetzt und schmeicheln einem reaktionären »Nonkonformismus«, angefangen bei großen Teilen der Jugend, die von seinem »Radikalismus« begeistert war – vor allem in den letzten Jahren, als es die pandemiebedingten Einschränkungen gab.
In der Stichwahl schien sich Sergio Massa durchzusetzen, ein Mann, der die Politik und den Staat in- und auswendig kennt, ein ehemaliger Wirtschaftsminister (wenn auch einer, der für eine jährliche Inflation von 140 Prozent verantwortlich ist). Milei hatte auf seiner Seite nur die Qualitäten eines Komödianten mit der Kettensäge, der den Staatshaushalt kürzen will und dazu aufrief, »allen Politikern, die uns ärmer gemacht haben, in den Arsch zu treten«. Damit hat er alle Meinungsforscher getäuscht, die Massa einen relativ leichten Sieg vorausgesagt hatten.
Dieser verkörperte jedoch für die Kernwählerschaft wie kein anderer den Typus des überprofessionalisierten Politikers, den man loswerden muss.
Der Appell der »peronistischen linken Mitte« »zusammenzustehen, um die errungenen Rechte nicht zu verlieren«, hat nicht funktioniert. Dieser Appell, der noch einherging mit der Beschwörung einer »nationalen Einheit gegen die faschistische Barbarei«, klang wie eine Verteidigung des bestehenden politischen Systems von Amts wegen, das von allen unbestreitbaren Fehlern freigesprochen wurde. Er konnte jedoch nicht die Stimmung eines Teils der Bevölkerung ändern, der entschlossen war, für »das Neue« zu stimmen, auch wenn dieses Neue ein Sprung ins Ungewisse zu sein schien.
Ein Anarchokapitalist
Mileis politische Karriere begann erst vor zwei Jahren, im November 2021, als er mit etwas mehr als 300000 Stimmen zum Abgeordneten gewählt wurde – zusammen mit seiner jetzigen Vizepräsidentin Victoria Villarruel, eine militante Rechtsextreme.
Er ist Mathematiker und Ökonom, ein Anhänger der radikalsten Version der österreichischen Wirtschaftsschule von Friedrich Hayek in der Lesart des Amerikaners Murray Rothbard, ein »Anarchokapitalist« , der der Demokratie misstraut.
Seine Wählerschaft ist sehr breit gefächert und reicht von den wohlhabenden Stadtvierteln der Hauptstadt bis zu den ärmsten und am stärksten von der kapitalistischen Krise betroffenen Arbeitervierteln. Bezeichnenderweise hat Milei sogar in der Hauptstadt Buenos Aires und ihrer Provinz gewonnen, die immer eine Bastion des Peronismus war, ebenso wie in den meisten anderen Provinzen des Landes.
Als der Sieg von Milei sicher schien und sogar Sergio Massa ihn anerkannte, ging eine große Menschenmenge spontan auf die Straßen der Hauptstadt und anderer argentinischer Städte, offensichtlich fasziniert von der illusorisch utopischen und messianischen Rhetorik des neuen Präsidenten und seinen reaktionären Proklamationen.
In seinen ersten Reden als gewählter Präsident griff Milei den Ton der Barrikade und der »historischen« Mission wieder auf, den er »einstweilen« beiseite gelegt hatte, um die Wähler der Mitte nicht zu verschrecken. Er präsentierte sich als »erster liberal-libertärer Präsident in der Geschichte der Menschheit«, als »neuer Mose«, als Befreier des Volkes vom »Joch des Etatismus«. Er erklärte sich ehrgeizig zum »Feind aller lauwarmen Menschen« und wollte »mindestens 35 Jahre lang regieren«. Er versprach, »ohne Gradualismus« zu arbeiten, »der Dekadenz ein Ende zu setzen«, »das Blatt der Geschichte zu wenden« und »Argentinien wieder aufzubauen und es zu einer Weltmacht zu machen«.
Seine Anhänger antworteten ihm mit Sprechchören wie: »Geht alle nach Hause, es soll kein einziger mehr übrig sein.«
Sachzwänge
Diese »Utopie« in Regierungshandeln umzusetzen, ist die Herausforderung, vor der Milei und seine Anhänger stehen. Vor allem wenn man bedenkt, dass bei der Stichwahl am 19.November die Unterstützung für Milei durch den ehemaligen Präsidenten Mauricio Macri (2015–2019) und die traditionsrechte Präsidentschaftskandidatin Patricia Bullrich entscheidend für seinen Wahlsieg war.
Macri und Bullrich unterstützten ihn als Alternative zum peronistischen »Kirchnerismus«. In dieser Unterstützung liegt (zumindest im Moment) auch die ganze Zerbrechlichkeit von Mileis Vorhaben, im Parlament wird er vollständig von der bedingten Unterstützung der Abgeordneten der traditionellen Rechten abhängig sein.
Das Bündnis mit Macri hat Milei bereits im Wahlkampf zu einer weniger radikalen Haltung gezwungen, um entscheidende Teile der konservativen Wählerschaft nicht zu verärgern, seine provokanteren Stellungnahmen zur »totalen Privatisierung des Staates«, zur Notwendigkeit der »Dollarisierung der gesamten Wirtschaft« und zur Schließung der Zentralbank musste er aufgeben.
Wird er nun nach seinem überwältigenden Sieg zu seinem »radikalen« Programm zurückkehren, oder wird seine Regierung eine Art »Macrismus 2.0« sein, eine Erfüllung des mit der traditionellen Rechten geschlossenen Pakts für die Regierung, in die einige von Macri und Bullrich genannte Minister eintreten werden?
Und welche Rolle wird seine Vizepräsidentin Victoria Villarruel spielen, eine Anwältin mit Verbindungen zur extremen Rechten und zu Militärkreisen, die der Diktatur nachtrauern? Werden Milei und Villarruel in der Lage sein, eine vom Macriismus unabhängige gesellschaftliche Basis aufzubauen, die ihre »Reformen« unterstützt?
Die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen sind nicht nur eine Niederlage für den Kirchnerismus und den Peronismus. Sie bedeuten vor allem eine weitere politische, soziale und kulturelle Niederlage der Linken, ihrer Werte, ihrer Traditionen, ihrer erkämpften Rechte, ihrer Glaubwürdigkeit. Wie werden die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen auf eine noch rechtere Regierung reagieren?
Quelle: https://anticapitalista.org/ 2023/11/20/milei-lo-tsunami-argentino/
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.