Ein Kampfbegriff, mit dem Politik gemacht wird
von Matthias Becker
Mohammed Ali Chahrour u.a.: Generalverdacht. Wie mit dem Mythos Clankriminalität Politik gemacht wird. Hamburg: Nautilus, 2023. 320 S., 22 Euro
Der Sammelband Generalverdacht versucht, die öffentliche Debatte über kriminelle arabische Großfamilien vom Kopf auf die Füße zu stellen.
Straftaten türkisch-arabischer Einwanderer sorgen für Schlagzeilen und erregen die Gemüter. Seit 2018 veröffentlicht die Polizei in Berlin, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen regelmäßig »Lagebilder Clankriminalität«. Im Ruhrgebiet und in Berlin führt sie »Verbundaktionen« durch. Zusammen mit den Ordnungsämtern und Zollbehörden durchsuchen die Beamten Kneipen, Shisha-Bars, Kioske. Dann werden Straßen abgesperrt, teils schwer gepanzerte und bewaffnete Polizisten kontrollieren Ausweispapiere. Und unvermeidlich nutzen Politiker solche Einsätze als Gelegenheit, um sich von der Presse ablichten zu lassen und zu erklären, dass fortan Recht und Ordnung gegen die »kriminellen Großfamilien« durchgesetzt würden – die Razzia als Fototermin.
Der Aufwand für solche Inszenierungen ist erheblich, die Ermittlungserfolge dürftig. Regelmäßig präsentieren die Behörden als Ergebnis eine Handvoll Fälle von Schwarzarbeit, Personen ohne gültige Aufenthaltserlaubnis, geschmuggelter Tabak. Herbert Reul, Innenminister von Nordrhein-Westfalen, behauptet trotzdem, mit dieser »Politik der tausend Nadelstiche« ließen sich die »kriminellen Clans« zerschlagen. Aber die symbolischen Aktionen nerven mittlerweile selbst einige Kriminalbeamte. Andere geben unumwunden zu, dass es vor allem darum geht, »Präsenz zu zeigen«: Viertel wie Neukölln werden als »Parallelgesellschaften« markiert, die gleichsam zurückerobert werden müssten.
Das Konstrukt
Der Sammelband beleuchtet die Polizeipraxis und öffentliche Debatte aus bürgerrechtlicher, antirassistischer und feministischer Perspektive. Die Autor:innen zeichnen nach, wie der Begriff Clan von Medien und Politik durchgesetzt wurde. Sie skizzieren die Migrationsgeschichte der Mhallami-Kurden, einer arabischsprachigen Volksgruppe aus der Türkei und dem Libanon. Einige von ihnen kamen aufgrund des Libanonkriegs in den 1980er Jahren nach Deutschland. Der Großteil erhielt statt einer Aufenthaltserlaubnis lediglich eine befristete Duldung, die immer wieder verlängert werden musste. Die Behörden erschwerten bewusst den Zugang zu Schule, Arbeit und Ausbildung, um eine weitere Migration abzuschrecken. Noch in den späten 1990er Jahren verhandelte die Bundesregierung mit dem Libanon über Rücknahmeabkommen.
Im Mittelpunkt des Buchs steht die Kritik am Konstrukt Clankriminalität als Kampfbegriff. Tatsächlich ist der Begriff kriminologisch diffus. Weder bezeichnet er bestimmte Delikte, noch lässt sich die Tätergruppe wirklich eingrenzen. Laut Bundeskriminalamt zählen die eingewanderten türkisch-arabischen Großfamilien (und vor allem ihre Nachkommen) rund 200000 Menschen. Zwar betonen die Polizeibehörden mittlerweile, dass nicht alle kriminell seien. Bei ihren Ermittlungen fällt diese Unterscheidungen aber regelmäßig unter den Tisch.
Die Wirklichkeit
Als Kriterium für Clankriminalität gilt die Abschottung auf Grundlage von familiärer Zusammengehörigkeit und eine patriarchal-hierarchische Organisation. Dies trifft keineswegs auf alle Familien dieser Migrantengruppe zu, für manche spielt es gar keine Rolle. Die einschlägig bekannten Nachnamen Remmo, Al-Zein oder Charour sind weit verbreitet und sagen nichts über die tatsächliche verwandtschaftliche Nähe aus. Wer einen solchen Namen trägt, trifft auf Misstrauen und Ablehnung, wenn er eine Wohnung oder Arbeit sucht oder in eine Polizeikontrolle gerät.
Als eine Art Leistungsschau des antirassistischen Spektrums enthält dieser Sammelband naturgemäß auch die Widersprüche und blinden Flecken, die der Bewegung zu schaffen machen. Zu diesen gehört, dass die rassistische Gegenüberstellung von »rechtschaffenen deutschen Bürgerinnen« gegen »Barbaren«, die die Clan-Debatte durchzieht, in fast allen Beiträgen lediglich umgedreht wird, entsprechend des Schemas »weiße deutsche Rassisten gegen unschuldig verfolgte Einwanderer«.
Banden- und organisierte Kriminalität sind für die Bewohner der Viertel, wo die Armen und Einwanderer wohnen, durchaus ein Problem. Selbst wer eigene üble Erfahrungen mit rassistischen und brutalen Polizisten hinter sich hat, ruft sie an, wenn er sich nicht anders zu helfen weiß, sie sind manchmal das kleinere Übel. Viele Autor:innen malen mit ihrer restlosen Dekonstruktion rassistischer »Mythen«, »Projektionen« oder »Imaginationen« ein geschöntes Bild, von solchen Widersprüchen bereinigt. Eine politische Folge ihrer verkürzten Analyse ist ein weltfremder, nur identitätspolitisch begründeter »Abolitionismus«, der die Sicherheitsbedürfnisse in den Unterschichten ignoriert, die übrigens am meisten unter kriminellen Gangs leiden.
Dennoch verdeutlicht dieses Buch, welche Opfer der Generalverdacht gegen arabisch-türkische Einwanderer gefordert hat – höchste Zeit, ihn aus der Berichterstattung und Strafjustiz zu verbannen. Familien werden als kriminelle Organisationen gebrandmarkt, buchstäblich in Sippenhaft genommen. Für Demokratie und Bürgerrechte ist diese »Verquickung von Blutsverwandtschaft und Kriminalität« äußerst gefährlich.
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