von Thomas Rowley und Serhiy Guz
Wie die unabhängige britische Medienplattform openDemocracy erfahren und aufgedeckt hat, befürchten führende Gewerkschafter:innen, die Regierung wolle die Gewerkschaften in der Ukraine über ein neues „Beratungsgremium“ schwächen. Ukrainische Spitzenbeamt:innen treiben hinter den Kulissen eine Initiative zur Einrichtung eines eigenen hochrangigen gewerkschaftlichen Beratungsgremiums voran, um die Macht der größten Gewerkschaftsverbände des Landes zu beschneiden.
Aus Dokumenten, die dank des Gesetzes zur Informationsfreiheit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden, geht hervor, dass zwei führende Abgeordnete der ukrainischen Regierungspartei im Juli 2023 der Regierung vorgeschlagen haben, einen ganz neuen „Rat der Gewerkschaftsführer“ einzurichten ? ein ausdrücklicher Versuch, die bestehende Regierungsinstitution für den Dialog mit „Arbeitgebern“ und Gewerkschaften zu umgehen. Das ukrainische Ministerkabinett hat die Initiative im August gebilligt.
Laut den führenden Gewerkschaftern, mit denen openDemocracy gesprochen hat, wurde keiner von ihnen über diesen neuen Rat informiert, und es gab auch keine öffentliche Bekanntmachung.
Der Rat soll offenbar dazu dienen, den offiziellen Dialog der ukrainischen Regierung von dem größten Gewerkschaftsverband, dem Ukrainischen Gewerkschaftsbund (FPU), wegzulenken, der sich seit mehreren Jahren in einem Kampf mit der Regierung über eine Arbeitsrechtsreform befindet.
Der FPU-Vorsitzende Hryhorij Osowij sagte gegenüber openDemocracy: „Wenn es einen solchen Erlass gibt, würde er einen direkten Eingriff der Regierung in die Gewerkschaftsarbeit bedeuten.“
Die ukrainische Regierung und die FPU liefern sich seit der Wahl von Wolodymyr Selenskyj im Jahr 2019 einen zunehmend kontroversen Kampf um die Arbeitsreform. Die FPU behauptet, die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden und die Reformer hätten gemeinsam das Gewerkschaftseigentum (das die Gewerkschaften aus der Sowjetära geerbt haben) ins Visier genommen haben, um sie finanziell einzuschränken.
Die Äußerungen des Verantwortlichen für die Einrichtung des neuen „Rates der Gewerkschaftsführer“ ? dessen Zusammensetzung von dem Ministerrat bestimmt werden soll ? lassen vermuten, dass er ein positiveres Verhältnis zur ukrainischen Regierung haben würde als die FPU oder die KVPU.
„Dieser [Rat] ist dazu da, Probleme zu lösen, und nicht, um uns vom Staat zu distanzieren oder uns als autonome Kraft zu präsentieren“, sagte Serhij Kaplin, ein früherer Abgeordneter, der derzeit eine öffentliche Kampagne gegen die FPU-Führung betreibt.
Ein neues Gremium
Offiziell wurde der Vorschlag zur Bildung dieses Rates von der Abgeordneten Olena Schuljak, der Vorsitzenden der Partei „Sluha narodu“ (Diener des Volkes) von Wolodymyr Selenskyj, und der für Sozialpolitik zuständigen Abgeordneten Halyna Tretjakowa eingebracht. Tretjakowa war in den letzten Jahren federführend an den radikalen Arbeitsreformen der ukrainischen Regierung beteiligt, insbesondere seit dem Beginn der russischen Invasion im großen Stil. Sie reagierte nicht auf eine Bitte um Stellungnahme.
Wie openDemocracy aufdeckte, plant die ukrainische Regierung, die Moderation der Beziehungen zwischen Unternehmern und Gewerkschaften, einen Eckpfeiler moderner Arbeitsnormen, vollständig aufzugeben und den Schutz der Beschäftigten durch neue Gesetze abzubauen.
In einem gemeinsamen Schreiben an den Ministerrat vom 25. Juli [2023] stellten Schuljak und Tretjakowa fest, „rechtliche Hindernisse, politische Interessen und mangelndes Verständnis“ hätten dazu beigetragen, dass der Dialog zwischen Staat, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften in der Ukraine „trotz guter institutioneller Grundlagen“ nur schwach ausgeprägt sei.
Der neue Rat der Gewerkschaftsführer, so schrieben sie, werde dem Ministerrat angegliedert werden. Er würde „das sowjetische Paradigma ändern“, wonach die Gespräche zwischen dem Staat, den Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaftsgruppen (auf lokaler Ebene als „sozialer Dialog“ bekannt) im Rahmen des bestehenden Nationalen Sozioökonomischen Drei-Parteien-Rates stattfinden, und diese stattdessen in eine „neue Struktur mit neuen Leitern“ verlagern. Die neue Plattform, so Schuljak und Tretjakowa, werde es den Gewerkschaften ermöglichen, das bestehende Arbeitsrecht zu prüfen und Reformen „in einer freundlichen Atmosphäre“ vorzuschlagen.
Der ukrainische Ministerrat erklärte gegenüber openDemocracy, die „Verbreitung patriotischer Stimmungen in der [ukrainischen] Gesellschaft“ habe die „Notwendigkeit“ zur Folge, „die ukrainischen [Soldaten] und die echten Gewerkschaften in den sozialen Dialog einzubeziehen“.
Gleichzeitig erklärte Serhij Kaplin gegenüber openDemocracy, er „persönlich“ habe den Vorschlag des Rates initiiert, indem er das Büro des Ministerpräsidenten und den parlamentarischen Ausschuss für Sozialpolitik, dem Halyna Tretjakowa vorsteht, sowie zahlreiche andere Abgeordnete kontaktiert habe ? allerdings hätten nur Tretjakowa und Schuljak zugestimmt.
In einer weiteren offiziellen Korrespondenz, die von der Regierung veröffentlicht wurde, reagierte das ukrainische Justizministerium auf die Idee des neuen Rates mit dem Hinweis, dass das Kabinett selbst für die Zusammensetzung solcher Gremien zuständig sei. Mit anderen Worten: Wenn der Rat der Gewerkschaftsführer unter der Schirmherrschaft des ukrainischen Kabinetts eingerichtet wird, könnte die Mitgliedschaft im Rat letztlich vom Kabinett selbst ? von den Minister:innen der Regierung ? und nicht von den Gewerkschaften genehmigt werden.
Auf die Frage, ob der Rat von ukrainischen Beamten kontrolliert werden würde, sagte Kaplin gegenüber openDemocracy: „Diese Art von Institutionen [wie der Rat] sind nicht dazu gedacht, die Gewerkschaften dem Staat zu unterstellen, nein. Es ist andersherum: Der Staat soll den Gewerkschaften unterstellt werden. Er fügte hinzu: „Es wird wie ein Gewerkschaftsparlament sein“ und erklärte, dass er bereit sei, die FPU-Führung in den Rat einzubeziehen, dieser werde aber in erster Linie Aktivist:innen von der Basis vorbehalten sein.
Gregory Schwartz, Experte für Arbeitsbeziehungen und Politik an der Universität Bristol, sagte gegenüber openDemocracy, der Rat sehe aus wie „eine klassische sowjetische oder postsowjetische Vorgehensweise“. „Es ist für die Regierung schwierig, mit den richtigen Sozialpartnern zu verhandeln, also beschließt sie stattdessen eine eigene Einrichtung als Quasi-Partner zu gründen.“
Übertragung von Eigentum
Kaplins derzeitige Kampagne gegen die, wie er es nennt, „korrupte“ FPU-Führung deutet in der Tat darauf hin, dass er in der Lage sein könnte, einen positiveren Ton in den Beziehungen zwischen Gewerkschaft und Regierung anzuschlagen. Im Rahmen dieser Bemühungen hat er einen neuen Gewerkschaftsbund gegründet, der Mitglieder und Branchen von der FPU abspalten soll.
Im Juni kursierte im Internet ein Video, in dem Kaplin aggressiv mit angeblichen FPU-Hauptamtlichen spricht, während er von Männern in Tarnkleidung umgeben ist. Er sagte, er habe die Unterstützung von Veteranen für seine neue Organisation, und sie wünschten eine Vertretung auf der Führungsebene der FPU. Kaplin forderte auch öffentlich die Absetzung korrupter Gewerkschaftsführer und drohte, die Kriegsveteranen würden selbst „die Ordnung wiederherstellen“, wenn nicht auf ihn gehört werde.
Kaplin, der Generalsekretär des neuen Gewerkschaftsbundes, forderte die Übergabe des gesamten ukrainischen Gewerkschaftseigentums, um die Rehabilitierung der Veteranen zu unterstützen ? eine Forderung, die von Wirtschaftsministerin Julija Swiridenko und der Abgeordneten Halyna Tretjakowa 2022 zum ersten Mal erhoben worden war.
„Wenn Sie die Gewerkschaftsmitglieder fragen, ob sie bereit sind, dieses Eigentum unseren Soldaten zur Nutzung zu überlassen, werden sie dies bejahen“, erklärte Kaplin im Gespräch mit openDemocracy. Dazu könnten auch die Dutzenden von der FPU kontrollierten Gewerkschaftseinrichtungen gehören, die 2022 im Rahmen einer strafrechtlichen Untersuchung wegen angeblicher Gewerkschaftskorruption beschlagnahmt worden waren.
Die Direktorin der ukrainischen Nationalen Agentur für die Identifizierung, Suche und Verwaltung von Vermögenswerten aus Korruption und anderen Verbrechen (auf Englisch: Asset Recovery and Management Agency, ARMA), die derzeit das eingefrorene FPU-Vermögen verwaltet, ist gleichzeitig Präsidentin von Kaplins neuem Gewerkschaftsbund. In einem Facebook-Post vom 4. Oktober erklärte Olena Duma, [seit dem 30. Juni 2023] Direktorin von ARMA, sie habe bereits damit begonnen, das beschlagnahmte FPU-Eigentum einem neuen Management zu übertragen. Duma sagte auch, sie habe gesetzliche Bestimmungen vorgeschlagen, die die Übertragung dieser Immobilien für die Rehabilitierung von Veteranen ermöglichen werde. openDemocracy hat ARMA und Olena Duma um einen Kommentar gebeten, aber keine Antwort erhalten.
21.Dezember 2023
Quelle: https://www.opendemocracy.net/en/odr/ukraine-council-of-trade-union-leaders-interference/
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.