von Thies Gleiss
„Freiheit:
Wir wollen die demokratische Willensbildung
wiederbeleben, demokratische Mitbestimmung
ausweiten und persönliche Freiheit
schützen. Rechtsextreme, rassistische und
gewaltbereite Ideologien jeder Art lehnen
wir ab. Cancel Culture, Konformitätsdruck
und die zunehmende Verengung des
Meinungsspektrums sind unvereinbar mit
den Grundsätzen einer freien Gesellschaft.
Das Gleiche gilt für den neuen politischen
Autoritarismus, der sich anmaßt, Menschen zu
erziehen und ihren Lebensstil oder ihre Sprache
zu reglementieren. Wir verurteilen Versuche zur
umfassenden Überwachung und Manipulation
der Menschen durch Konzerne, Geheimdienste
und Regierungen.“
Das ist ungekürzt der Programmteil zu Demokratie und Freiheit beim neuesten Stern am deutschen Parteienhimmel, der Partei Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Über die anderen Programmpunkte wurde sich schon an anderer Stelle genügend geärgert, dazu deshalb nur in Kürze:
Die Berufung auf eine „wirtschaftliche Vernunft“, die Grundlage der Politik werden soll, führt in einer Klassengesellschaft, deren Hauptinteressengruppen sehr unterschiedliche Vorstellungen haben, was „Vernunft“ ist, nicht sehr weit. Genau genommen sind es sich antagonistisch (unauflöslich) gegenüberstehende Interessen, die dazu führen, dass einzelne Akteure im Kapitalismus sehr planvoll, „vernünftig“, sogar demokratisch ihre Interessen und Politik verfolgen, das Gesamtergebnis „kapitalistische Gesellschaft“ aber hochgradig irrational, voller Fehlentscheidungen für die Gesamtheit und voller Verschwendung von Ressourcen ist.
Der tiefe Glaube des BSW-Programms, dass es einen vernünftigen, sozial gerechten und ohne Gier und Misswirtschaft lebenden Kapitalismus geben kann, ist deshalb bestenfalls naiv, eher grob irreführend. Die Kritik an der Rüstungs- und Kriegspolitik der Bundesregierung und der EU gehört sicherlich zum Besten beim BSW, insbesondere die konkreten Forderungen nach Waffenstillstand, Verhandlungen und Rüstungsbeschränkungen. Aber auch hier gibt es als politische Erklärung nur die Feststellung, die Kriegspolitik wäre unvernünftig und schade dem deutschen Wirtschaftsstandort.
Sind das wirklich die Bezugspunkte für eine fortschrittliche und demokratische – ich sage ausdrücklich nicht links, weil das BSW ja nicht mehr „links“ sein möchte – Politikalternative? Beim BSW wehen an dieser Stelle in der Online-Präsentation des Programms nicht zufällig die Deutschlandfahnen vor dem Reichstagsgebäude von Berlin. Und jetzt also noch die Rettung der Demokratie. Die Demokratie wäre durch Cancel Culture, Konformitätsdruck und Verengung des Meinungsspektrums gefährdet. Man könne nicht mehr frei sagen, was man sagen will – so heißt es nicht nur beim BSW, sondern auch – fast wie abgesprochen – in den diversen Austrittserklärungen aus der LINKEN von Freundinnen und Freunden des BSW.
Cancel Culture ist häufig tatsächlich ärgerlich und eine kuriose Umdrehung von Ursache und Wirkung. Gesellschaftlich zerstörerische Prozesse und Formen der Klassenherrschaft werden zu individuellen Charaktereigenschaften reduziert und verharmlost. Die freiwillige Selbstzensur in den Redaktionen der wichtigsten Medien, insbesondere zu den Themen Ukraine- und Nahostkrieg, und die Unterordnung unter eine deutsche Staatsräson, gehören zu den traurigsten Ergebnissen der Klassengesellschaft in Deutschland 2024. Aber sind das wirklich die entscheidenden Zerstörungen an „der Demokratie“?
Können Leute, wie die vom BSW (bezeichnenderweise sagen die von der „Alternative für Deutschland“ wortgleich dasselbe) nicht mehr sagen, was sie wollen? Es ist doch eher so, dass dieses Land an einer unglaublichen Geschwätzigkeit leidet. Im Rahmen der deutschen Staatsräson und wenn er oder sie Biodeutsche/r ist, darf jede und jeder überall sagen, was er oder sie meint. Wer es nicht in eine Talkshow schafft, der produziert wenigstens seinen eigenen Podcast. Und die ganz Unterbemittelten toben sich in den digitalen Kommentarformaten aus. Freilich: Für Migrant:innen und Kritiker:innen der deutschen Leitkultur gilt das nicht bzw. nur eingeschränkt.
Was das BSW betrifft, müsste doch zunächst festgehalten werden, dass es noch niemals in der Geschichte eine derart massiv von den großen Medien erwartete, vorbereitete und ausgewalzte Parteigründung gab. Diese fremde oder externe Geburtshilfe wird für das BSW schon bald zu einem großen Problem werden. Denn es ist und bleibt ein Kunstprodukt.
Das Redenkönnen ist nicht das Problem. Manchmal, vor allem wenn das nötige Kleingeld fehlt, ist es das Hören, vor allem bei der BSW-Chefcommandantin Dr. Wagenknecht. Hier ihre Eintrittsgelder für Veranstaltungen im Februar: Düsseldorf 150 Euro, Limbach-Oberfrohna 16 Euro, Frankfurt/Oder 30 Euro, Bitterfeld-Wolfen 22 Euro. Es war schon immer etwas teurer, einer vernunftgeleiteten Partei zu lauschen.
Das alles blendet die wirkliche Zerstörung der Demokratie im Zuge der vielfältigen Krisen aus, in denen der aktuelle Kapitalismus steckt. Autoritäre Formierungen der Staaten und der Regierungspolitik gibt es nicht nur in den einschlägig verdächtigen Ländern Russland, China, Türkei, Ungarn, USA oder in den diversen postkolonialen, mehr oder weniger „failed states“ in Afrika und Asien. Auch in der Europäischen Union und in Deutschland wird die Demokratie systematisch zerstört – nicht so sehr die individuelle demokratische Bewegungsfreiheit, sondern die kollektive:
– Mitbestimmungsrechte und -gremien in den Betrieben werden immer mehr ausgetrickst, mit Mobbing und Unionbusting überzogen, das Streikrecht wird weiter eingeschränkt;
– soziale Oppositionsbewegungen werden kriminalisiert und durch polizeiliche Willkür schikaniert;
– neue Versammlungs- und Polizeigesetze werden in den Bundesländern erlassen – egal, wer dort die Regierung stellt, neue Bewaffnungsrichtlinien der Polizei in Kraft gesetzt;
– die gigantischen Überwachungskraken in den privaten Internetkonzernen werden nicht etwa gestoppt und entmachtet, sondern ihr Wirken wird an allen Ecken und Enden noch erleichtert, vor dem Angriff durch neue KI-Technologien wird heute schon kapituliert.
Gleichzeitig wachsen die Begehrlichkeiten der Regierung und anderer Exekutivbehörden, der privaten Überwachung eine stetig verbesserte staatliche Überwachung überzustülpen. Die formale parlamentarische Demokratie – die selbst diverse strukturelle Mängel hat – wird mit alledem zunehmend entmachtet, die Gesetzgebungsprozesse aus dem Parlament heraus verlagert, die Macht von „Expert:innen“ und Lobbyverbänden gestärkt.
Zu alldem schweigt das neugegründete BSW. Ein Schweigen, das allerdings viel sagt über die Zukunft dieses Ladens und wo er gesellschaftspolitisch einzuordnen ist. Das Ärgerlichste kommt zum Schluss
Der Entstehungsprozess des BSW ist selber ein ausgemachtes Beispiel für Fehlen jeglicher Demokratie. Vermutlich würde selbst eine der modernen Werbeagenturen einen Proteststurm bei ihren eignen Leuten ernten, wenn eine so militärisch von oben, konspirativ und undemokratisch geplante und geführte Kampagne für ein neues Produkt durchgeboxt würde wie die Gründung des BSW. Aber die Meute schweigt und schwenkt still auf den neu verordneten Kurs ein.
Dass es nicht nur der Gründungsprozess ist, sondern so weitergehen soll, zeigt ein Blick auf die Statuten des BSW. Dieses Parteiprojekt fürchtet offenkundig weniger die demokratischen Beschränkungen des Kapitalismus und die Angriffe der politischen Gegner:innen als die eigenen und potentiell eigenen Mitglieder. So sad.
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.