Die ›soziale Frage‹ neu aufgegriffen
von Rolf Euler
Soziale Ungleichheit im Ruhrgebiet. In: Forum Geschichtskultur Ruhr. Heft 2, Essen 2023
Über das Auseinanderfallen von arm und reich speziell im Ruhrgebiet gibt es viele Statistiken und Erhebungen der Sozialverbände, der Städte und der Kommunalverbände. Die »soziale Frage« ist eigentlich gar keine Frage, sondern eine Feststellung, die während der Industrialisierung ebenso untersucht wurde wie bei der Stilllegungswelle von Bergbau und Stahl, beim sogenannten Strukturwandel.
Dass das Forum Geschichtskultur Ruhr im Heft 2 die »Soziale Ungleichheit im Ruhrgebiet« zum Thema hat, ist dennoch etwas Besonderes. Einerseits wird eine alte Erzählung aus der Geschichte des Industriereviers wieder aufgenommen, aber auch aus aktuellem Anlass: Zwar ist der Himmel über der Ruhr wieder blau, aber die soziale Spaltung drängt sich sowohl ökonomisch als auch politisch in den Vordergrund – etwa mit zunehmenden Prozentzahlen von AfD-Wählenden.
Das »Forum Geschichtskultur« ist ein Zusammenschluss von Ruhrgebietshistoriker:innen, Museumsfachleuten und Laien aus lokalen oder branchenbezogenen Geschichtskreisen.
Die »Geschichte von unten«, die international »Oral history« genannte erzählte Lebens- und Sozialgeschichte der Arbeitenden, hatte schon länger im Revier einen größeren Stellenwert als anderswo, mit den Forschungen von Lutz Niethammer, Klaus Tenfelde oder Michael Zimmermann, mit dem »Haus der Geschichte« in Bochum, mit einer Unzahl von Veröffentlichungen etwa im Klartext- und Asso-Verlag.
Die Industriegeschichte im Revier lässt sich immer zweifach lesen: als Geschichte der Industrie, ihrer Konzerne und leitenden Personen, aber auch als Geschichte der arbeitenden und zugewanderten »unteren« Schichten. Da wo diese selber zu Wort kommen, sich in Bewegung setzen, negative Veränderung nicht nur dulden, sondern aktiv dagegen angehen oder gestalten wollen, ist in der Regel die Geschichtswissenschaft dünn besetzt.
Im Revier hat jedoch die Studentenbewegung von 1968 eine größere Zahl von Historikerinnen und Historikern hervorgebracht, die sich mit der Klassenfrage beschäftigten und später in ihrem Beruf versuchten, »Geschichte von unten« zu betreiben, durchaus nicht (nur) im marxistischen Sinn.
Die Geschichte der Gewerkschaftsbewegung, der Sozialdemokratie, der Friedensbewegung, der Siedlungsrettungsaktionen, der Kämpfe gegen Stilllegungen – das sind alles Elemente, die im »Forum Geschichtskultur« Ort und Debatte gefunden haben.
Das Heft
Die Zeitschrift Forum Geschichtskultur Ruhr erscheint zweimal im Jahr mit einem umfassenden Überblick über Themen, Ausstellungen und Literatur aus und über das Ruhrgebiet. Das hier empfohlene Heft vereinigt unter dem Thema »Soziale Ungleichheit im Ruhrgebiet« Beiträge zur »Rückseite des Strukturwandels«: prekäre Arbeit, Selbstorganisation türkeistämmiger Vereine, die Bürgerinitiative gegen Umweltgifte aus Duisburg, Initiativen gegen Geschlechtsdiskriminierung oder die sozialkritische Fotografie im Revier.
Hinzu kommen Texte zur Bergbaugeschichte im Unterricht, über das Fritz-Bauer-Forum in Bochum, das Bildungswerk der Humanistischen Union, und – sicher dank der beiden Redakteurinnen Susanne Abeck und Nancy Bodden – vieles aus der Frauengeschichte und ihrer eher viel zu kurz gekommenen Repräsentation.
Wenn auch auf die sozialkritische Fotografie eingegangen wird, so gibt es im Revier ein Fülle von Material, das in Archiven schlummert, Fotobücher von frühen Fotografen, als das Revier noch schwarz-grau war, das Pixelprojekt Ruhr und aktuelle Aufnahmen von Geflüchteten und ihren Situationen. Da ist der 20er-Jahre-Fotograf Erich Grisar, da sind die aktuellen Fotoarbeiten etwa von Brigitte Kraemer. Peter Liedtke ist in dem Heft als kenntnisreicher Autor dazu vertreten.
Der Rückblick auf die zum Thema erschienene Literatur seit Beginn des letzten Jahrhunderts weist auf »Paternalismus, Schmutz, Gerümpel« hin, die das Leben mehrerer Generationen – abgesehen von den unterdrückenden Arbeits- und Politikbedingungen – mit prägten. Das zeigt noch einmal deutlich, aus welcher Geschichte die Menschen im Revier immer versucht haben, »davon zu kommen« und solidarisch weiter zu machen.
Im Heft gibt es unter anderem auch einen Nachruf auf Ludger Claßen, den ehemaligen Gründer und Chef des Klartext-Verlags. Ihm ist in großem Ausmaß zu verdanken, dass die Ruhrgebietsgeschichte und die Geschichten der Arbeitenden zu Büchern geworden sind.
Im Klartext-Verlag erscheint auch das »Forum«, es kann dort und in jeder Buchhandlung bestellt werden und ist – auch für Nichtruhrgebietler! – meine große Empfehlung zur Beleuchtung eines immer aktuellen Themas.
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