Auf dem Weg in die Kriegswirtschaft
von Martin Kirsch
Deutschland soll wehrhaft und kriegsfähig werden, heißt es. Stimmen aus dem militärisch-geopolitischen Establishment fordern sogar eine Kriegswirtschaft, um die Rüstungsproduktion hochgefahren zu können und unabhängiger von strategisch wichtigen Importen zu werden.
»Wir können nicht mehr so leben, wie wir es noch vor einem Jahr getan haben«, sagte Emanuel Macron im Sommer 2022 auf der Rüstungsmesse Eurosatory. »Frankreich und Europa sind in eine Kriegswirtschaft geraten, und ich glaube, in dieser werden wir noch lange Zeit bleiben.«
Der französische Präsidenten war der erste, der das umstrittene Schlagwort öffentlich äußerte. Wenige Monate später griff Wolfgang Ischinger, ehemaliger Spitzendiplomat und Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, die Forderung nach einer Kriegswirtschaft auf. In einem Interview mit Bild sagte er, der Bedarf an Gerät und Munition für die Bundeswehr einerseits und für die ukrainische Armee andererseits seien so groß, dass die Wirtschaft das Militärische bevorzugen müsse.
Ähnlich äußerte sich kurz darauf André Wüstner, der Vorsitzende des Bundeswehrverbands, der größten Soldatenvertretung in Deutschland, in der ZDF-Talkshow Maybrit Illner im Januar 2023: »Ich will damit nicht sagen, dass Siemens statt Kühlschränke Munition produzieren muss, aber wir müssen jetzt beschleunigen mit Blick auf die Industrie.« Und Manfred Weber, der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei (EVP), bekräftigte die Forderung: »Auch wenn der Begriff kein einfacher ist, wir brauchen eine Art Kriegswirtschaft in der EU, um Stabilität und Sicherheit gewährleisten zu können.«
Was versteckt sich hinter der provokanten Wortwahl? Laut Gabler-Wirtschaftslexikon wird in einer Kriegswirtschaft »der Marktpreismechanismus bei ausgedehntem staatlichem Dirigismus größtenteils außer Kraft gesetzt«. Zwar werde das Privateigentum an den Produktionsmitteln nicht angetastet, aber in einer Kriegswirtschaft entscheide der Staat, was und wie viel produziert wird. Es handle sich um eine »zentrale Verwaltungswirtschaft«. Ressourcen werden primär für die Streitkräfte eingesetzt, z.B. Arbeitskraft, Lebensmittel oder Mobilität. Für erwünschte Güter erlässt der Staat Preisgarantien, Patente werden aufgehoben, Ressourcen rationiert und bestimmten Unternehmen zugeteilt. Wenn kritische Rohstoffen fehlen, wird in befreundeten und neutralen Staaten beschafft, bis hin zur Beschlagnahmung und zahlreichen anderen Eingriffen. Historisch wurden neue industrielle Verfahren entwickelt, um kritische Rohstoffe zu ersetzen.
Eine Kriegswirtschaft greift zu besonderen finanz- und fiskalpolitischen Maßnahmen. Um Rüstung und Kriegsführung zu bezahlen, werden oft hohe Schulden aufgenommen und Steuern und Abgaben erhöht. Andererseits werden staatliche Leistungen, die militärisch nicht relevant sind, gekürzt oder abgeschafft. Bei äußerster Knappheit wird Geld freiwillig oder unfreiwillig eingezogen: durch Spendensammlungen, wie zuletzt im Ukrainekrieg, oder durch Beschlagnahmung oder Enteignung bei vermeintlichen äußeren oder inneren Feinden.
Die deutsche Wirtschaftsordnung hat mit einer so verstanden Kriegswirtschaft kaum etwas gemeinsam. Es gibt (bisher) keine Wehrpflicht, keine ökonomische Mobilisierung oder massive Staatsverschuldung, wenig staatliche Lenkung und so weiter. Allerdings sind Tendenzen erkennbar, die ermöglichen würden, die deutsche Wirtschaft künftig auf eine solche Kriegswirtschaft umzustellen.
Allgemein stehen neoliberale Prinzipien in der öffentlichen Kritik.
Seit der Krisenkaskade seit Covid-19 wird die Abkehr vom Just-in-time-Prinzip gefordert, hin zu »Just in Case«, eine größere Lagerhaltung, um für alle Fälle gerüstet zu sein. Für Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 und für den Klimaschutz hat die Bundesregierung neue Finanzierungsmöglichkeiten und Sondervermögen geschaffen.
Bei der aktuellen Debatte um die Kriegswirtschaft geht es primär um das Hochfahren der Rüstungsindustrie. »Eine schnelle Beschaffung setzt vorhandene industrielle Kapazitäten voraus – Kapazitäten, die man skalieren kann«, sagte Bundesminister Boris Pistorius am 10.November 2023 auf der Bundeswehrtagung. Die Produktion soll angekurbelt werden. Die EU hat der Ukraine im März 2023 eine Million Artilleriegranaten bis März 2024 versprochen und der Industrie entsprechende Abnahme- und Preisgarantien gemacht.
In den sogenannten Rahmenverträgen der Bundeswehr werden vertraglich auch künftige Produktionskapazitäten, über den konkreten Bedarf hinaus, vereinbart. Beispielsweise hat die Bundeswehr 18 neue Kampfpanzer vom Typ Leopard 2A8 geordert, um die an die Ukraine gelieferten Panzer zu ersetzen. Der Vertrag enthält Klauseln, denen zufolge die Bundeswehr zusätzlich bis zu 123 Stück abrufen kann, wobei Verbündete wie die Niederlande, Litauen und Tschechien eventuell überschüssige Panzer abnehmen sollen. Weiterhin hat sie 2600 Panzerabwehrminen bestellt, weil diese Menge in die Ukraine geliefert wurde. Die Industrie soll allerdings Kapazitäten vorhalten, um bei Bedarf bis zu 10000 weitere Minen liefern zu können.
An der im August 2022 von Deutschland organisierten Initiative European Sky Shield beteiligen sich 19 EU- bzw. NATO-Staaten. Deutschland, Estland und Lettland kaufen in diesem Rahmen gemeinsam das Flugabwehrsystem IRIS-T SLM. Österreich und Slowenien haben ihr Interesse an dem System bekundet. Deswegen wird das Konsortium unter Leitung von Diehl Defense seine Produktionskapazitäten verdoppeln.
Im Fall der Munitionsherstellung wird tatsächlich in die Produktion eingegriffen. Die Produktion der Geschosse für den Gepard-Panzer hat Rheinmetall auf politischen Druck von einem Schweizer Tochterunternehmen ins Stammwerk in der Lüneburger Heide verlagerte, weil die traditionell neutrale Schweiz sich gegen die Lieferung in die Ukraine sperrte.
Wichtiger noch ist, dass die staatliche Beteiligung an Rüstungskonzernen kontinuierlich zunimmt. Damit wachsen auch die Zugriffsmöglichkeiten auf die Branche. Beteiligungen an den Firmen Airbus, MBDA Deutschland und Jenoptik gibt es schon lange. 2021 kaufte sich der Bund bei Hensoldt ein und erwarb dort eine Sperrminorität.
Angestrebt wird eine solche Sperrminorität auch bei dem Unternehmen ESG, außerdem bei der Marinesparte von Thyssen-Krupp, die aus dem Konzern ausgliedert werden soll. 2022 kaufte der Bund die Warnowwerft bei Rostock. Darüber hinaus fordert Kriegsminister Pistorius ein generelles Vorkaufsrecht für die Bundeswehr bei deutschen Rüstungskonzernen, wie es bspw. in den USA gehandhabt wird.
Doch es geht nicht nur um militärisches Gerät im engeren Sinne. Unübersehbar soll auch die deutsche Energie- und Industriepolitik militär- und geostrategisch ausgerichtet werden. Deutschland soll unabhängiger werden von der Einfuhr strategisch wichtiger Rohstoffe, z.B. von Lithium. Das prominenteste Beispiel für das Streben nach »strategischer Autonomie« ist die Mikroelektronik. Bei Magdeburg (IBM), Dresden (TSMC) und in Ensdorf im Saarland (Wolfspeed) sind neue Chipfabriken geplant, die zu einem erheblichen Teil mit Staatsgeldern finanziert werden sollen.
Ein weiteres, weniger bekanntes Beispiel ist Panzerstahl. Schon vor längerem sind die letzten Kapazitären nach Schweden abgewandert. Nun soll wieder inländisch produziert werden, in einer Stahlhütte in Dillingen an der Saar. Welche Auswirkungen das Verfassungsgerichtsurteil zu Schattenhaushalten allerdings auf die notwendigen Subventionen für die Wirtschaftlichkeit der Chip- und Panzerstahlproduktion in Deutschland haben wird, ist offen.
Der Autor ist Beirat der Informationsstelle Militarisierung e.V. und schreibt meist zum Umbau der Bundeswehr für Großmachtkrieg und zur Aufrüstung der Inneren Sicherheit.
Quelle: www.imi-online.de/
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