Regierungskrise und Haushaltsstreit
von Ingo Schmidt
Alle paar Monate droht der US-amerikanischen Regierung die Zahlungsunfähigkeit. Nur wenn der Kongress in letzter Minute die Schuldenobergrenze anhebt, kann die Staatspleite abgewehrt werden. Die deutschen Medien berichten über dieses wiederkehrende Politspektakel mit einer Mischung aus Überheblichkeit – die Amis sind zu verschwenderisch und schlecht organisiert – und Sorge: Was passiert mit unseren in US-Bonds angelegten Ersparnissen und überhaupt mit dem Weltfinanzsystem, wenn Uncle Sam nicht mehr bezahlen kann?
Seit in paar Wochen bietet die deutsche Politik ein ähnliches Spektakel. Nur geht es dabei nicht um die Anhebung einer Schuldenobergrenze, sondern den Tritt auf die Schuldenbremse. In anderen Ländern sorgt das Berliner Treiben nicht für Sorge, sondern für Spott und Schadenfreude.
Panagotis Lafazanis, Minister der Syriza-Regierung während der Eurokrise, empfahl den Deutschen, zwecks Schuldenabbaus ihre Nordseeinseln zu verkaufen und sich, sollten sie dies nicht zuwege bringen, der Troika aus Internationalem Währungsfonds, Weltbank und Europäischer Union zu unterwerfen. Wie konnte es soweit kommen, dass sich der Schuldenpolizist Deutschland von einem griechischen Ex-Minister verspotten lassen muss?
Die Vorlage für Lafazanis’ Retourkutsche zu den damaligen deutschen Vorschlägen, die Griechen sollten ihre Inseln verkaufen, um ihre Schuldenprobleme zu lösen, lieferten der deutsche Oppositionsführer Friedrich Merz und das Bundesverfassungsgericht. Merz hatte gegen die Übertragung nicht genutzter Corona-Hilfen in den Klima- und Transformationsfonds geklagt, auf die sich die Ampelkoalition 2021 in einem Nachtragshaushalt geeinigt hatte. Das Gericht gab Merz recht. Damit wurden 60 Mrd. Euro aus einem Sondervermögen zu nicht gedeckten Ausgabenposten. Die Bundesregierung stand vor der Wahl, die mit diesen Geldern geplanten Projekte zu streichen, zulasten anderer Projekte in den Bundeshaushalt zu übernehmen oder eine Notsituation zu erklären, die das Aussetzen der Schuldenbremse erlaubt.
Die Regierung entschied sich für letzteres, um eine sofortige Kürzungswelle zu vermeiden. Krieg und Energiekrise stellten eine Notsituation dar, die sich, wie es in Art.109 Abs.3 Grundgesetz heißt, der »Kontrolle des Staates entzieht«. Gleiches hatte sie in den zwei Vorjahren geltend gemacht. 2021 wurde die Schuldenbremse mit Verweis auf die Corona-Pandemie ausgesetzt.
Wie in den Vorjahren heißt es jetzt, im nächsten Jahr werde die Schuldenbremse eingehalten, ganz bestimmt und garantiert ohne Steuererhöhungen. Doch mit jedem weiteren Jahr, in dem die Schuldenbremse ausgesetzt wird, überzeugt das Insistieren auf unbedingter Einhaltung oder Reform im nächsten Jahr weniger.
Sollbruchstelle der Ampelkoalition
Je mehr die Regierung an Glaubwürdigkeit verliert, umso bitterer, aber auch aussichtsloser wird der Streit um den nächsten Haushalt. SPD und Grüne hatten im Bundestagswahlkampf die Festlegung auf Austerität und Haushaltsausgleich, mit denen Gerhard Schröder und Joschka Fischer ihre Parteien in die Opposition gesteuert hatten, zugunsten einer kreditfinanzierten Industriepolitik im Stile Joe Bidens aufgegeben.
Die FDP konnte da nicht mitgehen. Abgesehen vom kurzzeitigen Flirt mit dem Keynesianismus in den sozialliberalen 70er Jahren ist der Neoliberalismus ihr Markenkern.
Die Wirtschaftspolitik war als Sollbruchstelle im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Die Abwicklung bestimmter Projekte über Sondervermögen, umgangssprachlich: Schattenhaushalte, sollte beiden Seiten erlauben, ihr Gesicht zu wahren.
Diesem Doppelspiel hat das Verfassungsgericht ein Ende bereitet und damit eine Koalitionskrise ausgelöst. Die einen betrachten Neoliberalismus nach der Corona-Pandemie als gescheitert und suchen nach einem Staatsinterventionismus, ohne damit den keynesianischen Sozialstaat wiederbeleben zu wollen. Die anderen meinen, während der Wirtschaftskrise und der Pandemie habe der Interventionismus schon wieder Oberhand gewonnen und müsse endlich zurückgedrängt werden.
Angesichts dieser Pattsituation mussten äußere Feinde angerufen werden, Aufrüstung und Militarisierung der Außenpolitik sind bis weit in die Opposition konsensfähig. Deshalb konnte das Sondervermögen Bundeswehr in der Verfassung verankert werden, belastet aber dennoch die laufenden Haushaltsverhandlungen. Nominell ein Vermögen, müssen die Mittel für eine dauerhafte Steigerung der Rüstungsausgaben irgendwie aufgebracht werden.
Was liegt da näher als Kürzungen im Sozialbereich? Dafür gibt es über FDP und CDU bis zur AfD rechnerische Mehrheiten, auch wenn FDP und CDU sich bislang scheuen, dies offen auszusprechen. Die AfD wiederum fürchtet, dass die Zustimmungsgewinne, die sie bislang aus der Unbeliebtheit der Ampelkoalition gezogen hat, wieder schwinden würden, ließe sie die neoliberale Katze aus dem rechtspopulistischen Sack. Unfähig, grassierende Unzufriedenheit politisch zu bündeln, hat sich Die LINKE, obwohl in der Ablehnung von Sozialkürzungen einig, gespalten und sich damit vorerst als politischer Faktor ausgeschaltet.
Die USA dürfen Schulden machen
Wie in anderen Ländern ist das politische System in Deutschland zunehmend gelähmt, kaum in der Lage, die Interessen unterschiedlicher Kapitalfraktionen auszutarieren und den Konsens der Subalternen zu sichern – ein markanter Unterschied zur Hoch-Zeit des Neoliberalismus, als sich zumindest Mittel- und Großbetriebe, Dienstleistungs- und Industrieunternehmen unter Führung des Finanzkapitals unter dem Banner von Deregulierung, Privatisierung und internationaler Wettbewerbsfähigkeit sammelten.
Steuersenkungen, Privatisierung öffentlicher Betriebe und Dienstleistungen samt der damit verbundenen Umlenkung öffentlicher Mittel in die privaten Finanzmärkte waren der haushaltspolitische Beitrag zur Herstellung einer globalen Marktgesellschaft. Dieser Beitrag sah je nach Stellung eines Landes in der Hierarchie des kapitalistischen Weltsystems sehr unterschiedlich aus.
Die USA konnten es sich als Führungsmacht leisten, massiv Steuern zu kürzen, öffentliche Ausgaben – fürs Militär – zu steigern und steigende Staatsdefizite aus Auslandskrediten zu finanzieren. Als die Rüstungsausgaben nach Zusammenbruch der Sowjetunion sanken, Steuern ausnahmsweise einmal erhöht, Sozialausgaben dafür massiv gesenkt wurden, verzeichnete der US-Haushalt Überschüsse. Derweil flossen die Auslandskredite, weil private Haushalte einen steigenden Anteil ihres Konsums über Schulden finanzieren.
Die USA müssen sich verschulden, um den Lebensstandard der Masse der Bevölkerung in Zeiten stagnierender oder sinkender Löhne zu stabilisieren. Die Auslandsverschuldung der USA dient aber auch der Stabilisierung der weltwirtschaftlichen Nachfrage, wenngleich die ausländischen Kreditgeber wissen, dass sie bestenfalls einen Teil ihres Geldes wiedersehen werden.
Als Land an der Spitze des kapitalistischen Weltsystems müssen die USA keinen Schuldendienst leisten. Dafür wurde der globale Süden, aber auch die ost- und südeuropäischen Peripherien, in die Schuldknechtschaft getrieben. Für sie gab es Neoliberalismus pur. Weiter oben gibt es mildere Formen des Neoliberalismus, die den Regierenden erlauben, die Daumenschrauben der arbeitenden Klassen mal mehr, mal weniger anzuziehen.
…und Deutschland?
Deutschland ist in diesem System eine Mittelmacht. Stark genug, den Schuldendienst an der Peripherie durchzusetzen, aber zu schwach, um selbst davon befreit zu werden. Hier und da entwickelte Vorstellungen, eine EU unter deutscher Führung könne die Vormachtstellung der USA herausfordern, wurden nicht zuletzt durch die haushaltspolitischen Leitlinien behindert, die 1992 auf Drängen Deutschlands in die Maastrichter Verträge zur Gründung einer Wirtschafts- und Währungsunion aufgenommen und 1997 als dauerhafte Leitlinien der Fiskalpolitik in den Stabilitäts- und Wachstumspakt übernommen wurden.
Anfang der 2000er Jahre – der von den USA ausgehende New Economy-Boom war gerade vorüber und Exporte fielen als Antreiber der deutschen Konjunktur aus – überstieg das deutsche Haushaltsdefizit die 3-Prozent-Grenze des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Vor diesem Hintergrund verkündete Bundeskanzler Schröder 2003 die Agenda 2010.
Als Finanzminister Angela Merkels zeichnete Peer Steinbrück 2009 für die Aufnahme der Schuldenbremse ins Grundgesetz verantwortlich. Das neoliberale Korsett aus Agenda und Schuldenbremse trug genügend zur Lohnzurückhaltung bei, um Deutschland wieder zum Exportweltmeister zu machen. Zulasten anderer Länder.
Die Währungsunion wäre an den Schulden, in die die europäischen Peripherien von der deutschen Exportoffensive getrieben wurde, fast zerbrochen. Jetzt könnte Olaf Scholz’ Kanzlerschaft an den Regeln scheitern, die seine Vorgänger Kohl, Schröder und Merkel der EU aufgedrängt und gegenüber schwächeren Mitgliedstaaten rücksichtslos durchgesetzt haben. Der dabei angerichtete Schaden würde dadurch nicht wiedergutgemacht, aber man kann verstehen, dass die bloße Aussicht auf das Scheitern der Deutschen an ihren eigenen Regeln dem ehemaligen griechischen Finanzminister Lafazanis eine gewisse Genugtuung bereitet.
Ingo Schmidt ist marxistischer Ökonom. Er lebt in Kanada und in Deutschland.
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