Israels heimtückisches Narrativ
von Jeremy Scahill
Über zwei Drittel der Palästinenser, die von Israel im Rahmen des Waffenstillstands zur Freilassung vorgeschlagen wurden, sind nicht wegen eines Verbrechens verurteilt worden. Die meisten wurden als Kinder verhaftet.
Die Darstellung der israelischen Regierung von den palästinensischen Gefangenen, die im Rahmen der vorübergehenden Waffenruhe freigelassen werden sollten, ist heimtückisch und unehrlich. Innenminister Itamar Ben Gvir hat den Palästinensern verboten, ihre Freilassung zu feiern. »Meine Anweisungen sind klar: Es darf keine Freudenbekundungen geben«, sagte er. »Freudenbekundungen sind gleichbedeutend mit der Unterstützung des Terrorismus, Siegesfeiern sind eine Unterstützung für diesen menschlichen Abschaum, für diese Nazis.« Er wies die israelische Polizei an, mit »eiserner Faust« vorzugehen, um seine Anweisungen durchzusetzen.
Die Netanyahu-Regierung und ihre Unterstützer haben die Behauptung aufgestellt, bei den Gefangenen handele es sich um hartgesottene Terroristen, die Gewaltverbrechen begangen hätten. Die Behauptung beruht auf der absurden Praxis, die Gefangenen noch vor einem Prozess öffentlich zu verurteilen, selbst vor den Scheinprozessen, denen Palästinenser routinemäßig unterworfen werden. Israel hat eine Liste mit den Namen der Personen veröffentlicht, die angeblich Verbrechen begangen haben. Und wer erhebt diese Anschuldigungen? Ein Militär, das als brutale Besatzungsmacht gegen Palästinenser im Westjordanland vorgeht.
Kinder
Die überwiegende Mehrheit der 300 palästinensischen Gefangenen, deren Freilassung von Israel vorgeschlagen wurde, sind Jugendliche. Der Liste zufolge sind 124 der Gefangenen unter 18 Jahre alt, darunter ein 15jähriges Mädchen; viele der 146, die 18 Jahre alt sind, wurden in israelischen Gefängnissen so alt, nach der Definitionen der UN-Konvention über die Rechte des Kindes waren diese Palästinenser Kinder, als sie von Israel verhaftet wurden. Von den 300 Gefangenen, sind 233 nicht wegen eines Verbrechens verurteilt; sie werden einfach als »verhaftet« eingestuft.
Überall auf der Welt erheben Polizei und Staatsanwaltschaft Anschuldigungen, die sich später in einem fairen Prozess als falsch erweisen. Das israelische Narrativ verbreitet die Fiktion, diese Palästinenser würden sich in einem fairen Gerichtsverfahren befinden, in dem sie schließlich in einem fairen und unparteiischen Prozess verurteilt werden. Dies ist eine vollständige, nachweisbare Farce. Palästinenser werden nicht vor Zivilgerichten, sondern vor Militärgerichten angeklagt. Oft wird ihnen der Zugang zu Anwälten und zu angeblichen Beweisen gegen sie verweigert, sie werden regelmäßig über lange Zeiträume in Isolationshaft gehalten und anderen Formen von Misshandlungen ausgesetzt.
Israel ist das einzige »entwickelte« Land der Welt, das Kinder routinemäßig vor Militärgerichte stellt, sein System wurde wiederholt von großen internationalen Menschenrechtsorganisationen und -institutionen kritisiert und angeprangert.
Rechtlos
Wenn diese Menschen, wie Israel behauptet, Gewaltverbrechen begangen haben, insbesondere gegen Zivilisten, dann sollte Israel ihnen das volle Recht auf ein ordnungsgemäßes Verfahren zugestehen, damit sie die angeblichen Beweise gegen sie einsehen können, und sie sollten vor zivilen Gerichten mit denselben Rechten verurteilt werden, die israelischen Angeklagten gewährt werden. Das würde auch bedeuten, dass Palästinenser, die politische Gewalttaten begehen, insbesondere gegen die militärischen Kräfte einer gewaltsamen Besatzung, den Kontext und die Rechtmäßigkeit der israelischen Besatzung als Teil ihrer Verteidigung anführen dürfen. Israel bittet die Welt zu glauben, dass diese 300 Menschen alle gefährliche Terroristen sind, hat aber ein Militärgerichtssystem für Palästinenser aufgebaut, das auf magische Weise eine fast 100prozentige Verurteilungsquote hervorbringt.
Und das alles von einem Land, das sich selbst ständig als die einzige Demokratie im Nahen Osten anpreist. Die Palästinenser auf dieser Liste stammen aus dem besetzten Westjordanland und haben ihr ganzes Leben unter einem Apartheidregime verbracht.
Von Israel entführte Palästinenser, darunter auch einige auf der Liste der zur Freilassung vorgeschlagenen Gefangenen, haben sicherlich Gewalttaten begangen. Aber so zu tun, als sei der Kontext dieser Gewalttaten irrelevant, ist angesichts der entsetzlichen Bedingungen, unter denen die Palästinenser seit Jahrzehnten leben, ebenso absurd wie ungerecht. Dies steht im Gegensatz zu der weit verbreiteten Straffreiheit, die für die Handlungen gewalttätiger israelischer Siedler gilt, die gnadenlos auf Palästinenser losgehen, um sie aus ihren Häusern zu vertreiben.
Alle Nationen sollten danach beurteilt werden, wie sie die am wenigsten Mächtigen behandeln, nicht die Mächtigsten oder nur die Angehörigen einer bestimmten Religion oder Ethnie. Aus diesem Grund haben sich viele führende Bürgerrechtsanwälte in den USA gegen das Gefängnis von Guantánamo Bay und die Militärgerichte ausgesprochen und lehnen auch weiterhin US-Gesetze oder -Vorschriften ab, die den Angeklagten das Grundrecht auf eine angemessene Verteidigung verweigern.
Quelle: The Intercept, https://diem25.org/israels-insidious-narrative-about-palestinian-prisoners/
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.