Einstweilige Verfügung, 26.1.2024
VI. SCHLUSSFOLGERUNG UND ZU ERGREIFENDE MASSNAHMEN
- Der Gerichtshof kommt auf der Grundlage der vorstehenden Erwägungen zu dem Schluss, dass die in seiner Satzung vorgesehenen Voraussetzungen für die Anordnung einstweiliger Maßnahmen erfüllt sind. Es ist daher erforderlich, dass der Gerichtshof bis zu seiner endgültigen Entscheidung bestimmte Maßnahmen anordnet, um die von Südafrika geltend gemachten Rechte zu schützen, die der Gerichtshof für plausibel hält (siehe oben, Randnr. 54).
- Der Gerichtshof erinnert daran, dass er nach seiner Satzung befugt ist, auf Maßnahmen hinzuweisen, die ganz oder teilweise von den beantragten Maßnahmen abweichen, wenn ein Antrag auf einstweilige Maßnahmen gestellt wurde. Artikel 75 Absatz 2 der Verfahrensordnung verweist ausdrücklich auf diese Befugnis des Gerichtshofs. Der Gerichtshof hat in der Vergangenheit bereits mehrfach von dieser Befugnis Gebrauch gemacht (siehe z.B. Anwendung der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (Gambia gegen Myanmar), Vorläufige Maßnahmen, Beschluss vom 23. Januar 2020, I.C.J. Reports 2020, S. 28, para. 77).
- Im vorliegenden Fall stellt der Gerichtshof unter Berücksichtigung des Inhalts der von Südafrika beantragten einstweiligen Maßnahmen und der Umstände des Falles fest, dass die anzugebenden Maßnahmen nicht mit den beantragten identisch sein müssen.
- Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass Israel angesichts der oben beschriebenen Situation in Übereinstimmung mit seinen Verpflichtungen aus der Völkermordkonvention in Bezug auf die Palästinenser in Gaza alle in seiner Macht stehenden Maßnahmen ergreifen muss, um die Begehung aller Handlungen zu verhindern, die in den Anwendungsbereich von Artikel II dieser Konvention fallen, insbesondere:
(a) die Tötung von Mitgliedern der Gruppe;
(b) die Verursachung schwerer körperlicher oder seelischer Schäden bei Mitgliedern der Gruppe;
(c) die vorsätzliche Zufügung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die darauf abzielen, ihre physische Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; und
(d) die Verhängung von Maßnahmen zur Verhinderung von Geburten innerhalb der Gruppe.
Der Gerichtshof erinnert daran, dass diese Handlungen in den Anwendungsbereich von Artikel II der Konvention fallen, wenn sie in der Absicht begangen werden, eine Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören (siehe Absatz 44 oben). Der Gerichtshof ist ferner der Ansicht, dass Israel mit sofortiger Wirkung sicherstellen muss, dass seine Streitkräfte keine der oben beschriebenen Handlungen begehen. - Der Gerichtshof ist auch der Ansicht, dass Israel alle in seiner Macht stehenden Maßnahmen ergreifen muss, um die direkte und öffentliche Aufforderung zum Völkermord an Mitgliedern der palästinensischen Gruppe im Gazastreifen zu verhindern und zu bestrafen.
- Der Gerichtshof ist ferner der Auffassung, dass Israel sofortige und wirksame Maßnahmen ergreifen muss, um die dringend benötigte Grundversorgung und humanitäre Hilfe zu ermöglichen, um die schlechten Lebensbedingungen der Palästinenser im Gaza-Streifen zu verbessern.
- Israel muss auch wirksame Maßnahmen ergreifen, um die Zerstörung von Beweismaterial zu verhindern und die Sicherung von Beweisen zu gewährleisten, die im Zusammenhang mit den Anschuldigungen von Handlungen stehen, die in den Anwendungsbereich von Artikel II und Artikel III der Völkermordkonvention gegen Mitglieder der palästinensischen Gruppe im Gazastreifen fallen.
- In Bezug auf die von Südafrika beantragte vorläufige Maßnahme, dass Israel dem Gerichtshof einen Bericht über alle Maßnahmen vorlegen muss, die zur Durchführung seines Beschlusses ergriffen wurden, erinnert der Gerichtshof daran, dass er gemäß Artikel 78 der Verfahrensordnung befugt ist, die Parteien aufzufordern, Informationen zu allen Fragen im Zusammenhang mit der Durchführung der von ihm angegebenen vorläufigen Maßnahmen vorzulegen.
In Anbetracht der von ihm beschlossenen besonderen vorläufigen Maßnahmen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass Israel dem Gerichtshof innerhalb eines Monats nach Erlass dieses Beschlusses einen Bericht über alle Maßnahmen vorlegen muss, die zur Durchführung dieses Beschlusses getroffen wurden. Dieser Bericht wird anschließend Südafrika übermittelt, das Gelegenheit erhält, dem Gerichtshof seine Bemerkungen dazu zu unterbreiten. - Der Gerichtshof erinnert daran, dass seine Anordnungen über einstweilige Maßnahmen nach Artikel 41 der Satzung verbindliche Wirkung haben und somit völkerrechtliche Verpflichtungen für jede Partei schaffen, an die die einstweiligen Maßnahmen gerichtet sind (Vorwurf des Völkermords nach der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (Ukraine/Russische Föderation), einstweilige Maßnahmen, Anordnung vom 16. März 2022, I.C.J. Reports 2022 (I), S. 230, Rn. 84).
- Der Gerichtshof bekräftigt, dass die im vorliegenden Verfahren ergangene Entscheidung in keiner Weise die Frage der Zuständigkeit des Gerichtshofes für die Begründetheit der Rechtssache oder Fragen im Zusammenhang mit der Zulässigkeit der Klage oder der Begründetheit selbst präjudiziert. Sie lässt das Recht der Regierungen der Republik Südafrika und des Staates Israel unberührt, zu diesen Fragen vorzutragen.
- Der Gerichtshof hält es für notwendig zu betonen, dass alle am Konflikt im Gazastreifen beteiligten Parteien an das humanitäre Völkerrecht gebunden sind. Er ist zutiefst besorgt über das Schicksal der Geiseln, die während des Angriffs in Israel am 7. Oktober 2023 entführt wurden und seitdem von der Hamas und anderen bewaffneten Gruppen festgehalten werden, und fordert ihre sofortige und bedingungslose Freilassung.
- Aus diesen Gründen verfügt
DER GERICHTSHOF
die folgenden vorläufigen Maßnahmen:
(1) Mit fünfzehn gegen zwei Stimmen,
Der Staat Israel ergreift in Übereinstimmung mit seinen Verpflichtungen aus dem Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes in Bezug auf die Palästinenser im Gazastreifen alle in seiner Macht stehenden Maßnahmen, um die Begehung aller in den Anwendungsbereich von Artikel II dieses Übereinkommens fallenden Handlungen zu verhindern, insbesondere:
(b) schwere körperliche oder seelische Schäden bei Mitgliedern der Gruppe verursacht;
(a) die Tötung von Mitgliedern der Gruppe;
(c) die vorsätzliche Zufügung von Lebensbedingungen, die geeignet sind, die körperliche Unversehrtheit der Gruppe zu beeinträchtigen
die vollständige oder teilweise Zerstörung; und
(d) Auferlegung von Maßnahmen zur Verhinderung von Geburten innerhalb der Gruppe;
FÜR: Präsident Donoghue; Vizepräsident Gevorgian; Richter Tomka, Abraham, Bennouna, Yusuf, Xue, Bhandari, Robinson, Salam, Iwasawa, Nolte, Charlesworth, Brant; Richter ad hoc Moseneke;
GEGEN: Richterin Sebutinde; Richter ad hoc Barak;
(2) Mit fünfzehn gegen zwei Stimmen,
Der Staat Israel stellt mit sofortiger Wirkung sicher, dass sein Militär keine der unter Nummer 1 beschriebenen Handlungen begeht;
FÜR: Präsident Donoghue; Vizepräsident Gevorgian; Richter Tomka, Abraham, Bennouna, Yusuf, Xue, Bhandari, Robinson, Salam, Iwasawa, Nolte, Charlesworth, Brant; Richter ad hoc Moseneke;
GEGEN: Richterin Sebutinde; Richter ad hoc Barak;
(3) Mit sechzehn Stimmen bei einer Gegenstimme,
Der Staat Israel ergreift alle in seiner Macht stehenden Maßnahmen, um die direkte und öffentliche Aufstachelung zum Völkermord an Mitgliedern der palästinensischen Gruppe im Gazastreifen zu verhindern und zu bestrafen;
FÜR: Präsident Donoghue, Vizepräsident Gevorgian, Richter Tomka, Abraham, Bennouna, Yusuf, Xue, Bhandari, Robinson, Salam, Iwasawa, Nolte, Charlesworth, Brant, Ad-hoc-Richter Barak, Moseneke;
GEGEN: Richterin Sebutinde;
(4) Mit sechzehn Stimmen bei einer Gegenstimme,
Der Staat Israel ergreift sofortige und wirksame Maßnahmen, um die Bereitstellung dringend benötigter grundlegender Dienstleistungen und humanitärer Hilfe zu ermöglichen, um die widrigen Lebensbedingungen der Palästinenser im Gazastreifen zu verbessern;
FÜR: Präsident Donoghue, Vizepräsident Gevorgian, Richter Tomka, Abraham, Bennouna, Yusuf, Xue, Bhandari, Robinson, Salam, Iwasawa, Nolte, Charlesworth, Brant, Ad-hoc-Richter Barak, Moseneke;
GEGEN: Richterin Sebutinde;
(5) Mit fünfzehn gegen zwei Stimmen,
Der Staat Israel ergreift wirksame Maßnahmen, um die Zerstörung von Beweismaterial zu verhindern und die Sicherung von Beweismaterial zu gewährleisten, das im Zusammenhang mit den Anschuldigungen gegen Mitglieder der palästinensischen Gruppe im Gazastreifen steht, die in den Anwendungsbereich von Artikel II und Artikel III des Übereinkommens über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes fallen;
FÜR: Präsident Donoghue; Vizepräsident Gevorgian; Richter Tomka, Abraham, Bennouna, Yusuf, Xue, Bhandari, Robinson, Salam, Iwasawa, Nolte, Charlesworth, Brant; Richter ad hoc Moseneke;
GEGEN: Richterin Sebutinde; Richter ad hoc Barak;
(6) Mit fünfzehn gegen zwei Stimmen,
Der Staat Israel legt dem Gerichtshof innerhalb eines Monats ab dem Datum dieses Beschlusses einen Bericht über alle Maßnahmen vor, die zur Durchführung dieses Beschlusses getroffen wurden.
FÜR: Präsident Donoghue; Vizepräsident Gevorgian; Richter Tomka, Abraham, Bennouna, Yusuf, Xue, Bhandari, Robinson, Salam, Iwasawa, Nolte, Charlesworth, Brant; Richter ad hoc Moseneke;
GEGEN: Richterin Sebutinde; Richter ad hoc Barak.
Geschrieben in englischer und französischer Sprache, wobei der englische Wortlaut maßgebend ist, im Friedenspalast in Den Haag am sechsundzwanzigsten Januar zweitausendvierundzwanzig, in drei Ausfertigungen, von denen eine im Archiv des Gerichtshofs hinterlegt und die anderen der Regierung der Republik Südafrika bzw. der Regierung des Staates Israel übermittelt werden.
(Gezeichnet) Joan E. DONOGHUE, Präsidentin.
(Unterzeichnet) Philippe GAUTIER, Kanzler.
Richterin XUE fügt dem Beschluss des Gerichtshofes eine Erklärung bei; Richterin SEBUTINDE fügt dem Beschluss des Gerichtshofes eine abweichende Meinung bei; die Richter BHANDARI und NOLTE fügen dem Beschluss des Gerichtshofes Erklärungen bei; Richter ad hoc BARAK fügt dem Beschluss des Gerichtshofes eine gesonderte Stellungnahme bei.
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