Nachbetrachtungen zu einer Reise
von Angela Klein
Die Reise, die die Gewerkschafterdelegation Anfang Oktober in die Ukraine unternommen hat, verfolgte das Ziel, Kontakte zu ukrainischen Gewerkschaften zu knüpfen, sich über die sozialen Probleme der Kolleg:innen dort zu informieren und Austauschmöglichkeiten zwischen den Gewerkschaften herzustellen. Der Krieg spielte nur am Rande eine Rolle, war aber natürlich ständiger Begleiter der sozialen Probleme, mit denen die Kolleg:innen in der Ukraine konfrontiert sind. Dazu nun einige Nachbetrachtungen.
In der Ukraine herrscht Kriegsrecht, das heißt, Arbeitskämpfe sind verboten, es herrschen zahlreiche Einschränkungen in bezug auf Mobilität, Gehaltszahlungen, soziale und Bürgerrechte und es wurde die Möglichkeit der Arbeitspflicht eingeführt. Eine Rechtfertigung oder Leugnung des russischen Angriffs steht unter Strafe, ebenso der Aufruf zu Verhandlungen. »Wirklicher Widerstand ist undenkbar«, bekommen wir zu hören.
Sieht man davon ab, kann sich die Bevölkerung frei bewegen und privat auch ihre Meinung äußern, es herrscht soweit, anders als in Russland, keine Diktatur; die Presse ist allerdings gleichgeschaltet. Von einer Demokratie kann angesichts der verbreiteten Korruption und der damit einhergehenden Rechtsunsicherheit dennoch keine Rede sein, vielleicht von einer Oligarchendemokratie… Deren kleptokratischer Charakter, eine Folge der Art, wie der Übergang von der sowjetischen zur postsowjetischen Staatsordnung stattfand, lastet schwer auf der Kriegführung.
Arbeitskämpfe
Dass Arbeitskämpfe verboten sind, bedeutet nicht, dass sie nicht stattfinden. Sie sind sogar ausgesprochen häufig. Die ukrainische Statistikbehörde listet von Januar bis August 2023 7644 solche Konflikte auf, an denen 1,6 Millionen Beschäftigte beteiligt waren. Davon wurden 45 Prozent wegen Nichteinhaltung des Arbeitsrechts und weitere 15 Prozent gegen die Einführung der neuen Arbeitsgesetze geführt; 32 Prozent betrafen die Nichteinhaltung des Tarifvertrags, 8 Prozent dessen Kündigung bzw. Änderung.1
Konflikte in den Krankenhäusern sind angesichts der systematischen Vernachlässigung der Gesundheitsversorgung und anhaltender Privatisierungsabsichten ein Dauerbrenner – daraus ist vor kurzem die neue Gewerkschaft #BeLikeNina entstanden (siehe SoZ 11/23). Besonders brisant sind diese Konflikte, wenn sie die unzureichende medizinische Versorgung der Soldaten betreffen.
Dauerkonflikte gibt es auch im Bildungswesen, vor allem an den Hochschulen: Die Studierenden kämpfen darum, dass ihnen die Stipendien auch in Kriegszeiten weitergezahlt werden, dass sie in den studentischen Wohnheimen halbwegs tragbare Lernbedingungen vorfinden und vor allem dass es an Universitäten wie an Schulen Schutzräume gibt – in Betrieben und Wohnvierteln eine Selbstverständlichkeit.
Ein anhaltender Arbeitskampf wird derzeit zudem bei Wolt geführt, in der Ukraine heißt die Lieferfirma Bolt Food.
Der Kriegszoll
Die Regierung, und in ihrem Schlepptau die Unternehmer, behandeln die Soldaten, die ihre Knochen für den Krieg hinhalten, nicht gut. Schon im Juli 2022 hat die Regierung ein Gesetz aufgehoben, das die Unternehmer zur Lohnfortzahlung für die eingezogenen Soldaten verpflichtete. Sie bekommen jetzt nur noch den Militärsold, der ist aber niedriger als ihr Arbeitslohn, vor allem wenn sie aus Großbetrieben kommen, wo sie leidlich verdienen. Über hundert Klagen sollen deshalb anhängig sein.
Bis Mitte August 2023 gab es laut New York Times, die sich auf Angaben des US-Geheimdienstes beruft, 130.000 Schwerverletzte. Sie haben jedoch Schwierigkeiten, sich als Kriegsversehrte anerkennen zu lassen, denn dafür gäbe es im Monat 2500 US-Dollar. Wer Geld hat, versucht, das gerichtlich einzuklagen, wer nicht, hat Pech gehabt.
Die gesundheitliche Versorgung der Soldaten lässt sehr zu wünschen übrig. In den Militärlazaretten werden sie nicht richtig gepflegt – es fehlt an Ausrüstung und Personal –, sie dürfen aber auch nicht nach Hause. Wenn sie dafür Urlaub beantragen und diesen überziehen, können sie der Desertion angeklagt werden – dafür drohen ihnen bis zu zwölf Jahren Gefängnis.
Wenn Menschen zu Beginn des Krieges vor den Bomben geflohen sind, auch ins Ausland, war es möglich, dass sie weiter beschäftigt blieben, indem sie Telearbeit verrichteten. Das wird nun von den Arbeitgebern, die die neuen Kündigungsmöglichkeiten nutzen, zunehmend in Frage gestellt; nicht immer sind Klagen dagegen erfolgreich.
Ein Schlag in die Magengrube war und ist die Erosion des Arbeitsrechts aus sowjetischen Zeiten. Das Gesetz Nr.5371 vom 19.7.2022 hat in Betrieben bis zu 250 Beschäftigten die Kollektivverträge abgeschafft, das betrifft 70 Prozent der abhängig Beschäftigten. Außerdem wurden die gesetzlichen Kündigungsbestimmungen aufgehoben. Die Unternehmer haben zudem die Möglichkeit, Nullstundenverträge abzuschließen, das bedeutet Arbeit auf Abruf. Ein Gesetzentwurf, der Aussperrungen erlaubt, ist in Arbeit.
Die Gesetze gelten bis Kriegsende – aber wann ist Kriegsende? Wenn die Grenzen von 1991 wiederhergestellt sind! Kein Wunder, dass selbst die staatstreuen Gewerkschaften vom Dachverband FPU fürchten, dass dies ein Dauerzustand wird.
Ernüchterung
Juryj Samojlow von der Unabhängigen Bergarbeitergewerkschaft in Krywyj Rih sprach von einem tief sitzenden Gefühl der sozialen Ungerechtigkeit unter den Soldaten. Das erhält zusätzlich Nahrung durch die verbreitete Korruption. Wer Geld hat, kann sich untauglich schreiben lassen – ein Militärarzt fordert dafür schon mal 4000 Dollar. Oder man besticht die Mitarbeiter eines der Rekrutierungsbüros – im August 2023 hatte Selenski deshalb sämtliche Regionalchefs der Rekrutierungsbüros entlassen. Oder man setzt sich ins Ausland ab. Die Korruption reicht weit hinauf in die Spitzen des Militärs: Anfang September 2023 wurde deshalb der Verteidigungsminister entlassen.
Von der Kriegsbegeisterung, die es zu Anfang gab, ist nichts mehr zu spüren. Die langen Warteschlangen vor den Rekrutierungsbüros sind verschwunden, das Personal wird knapp. Mittlerweile werden auch Frauen eingezogen, mit der Folge, dass auch hier die Absetzbewegungen zunehmen. Die Regierung hatte eine Demobilisierung nach 18 Monaten versprochen, doch angesichts des Personalmangels wird daraus nichts. An der Front sind sie erschöpft.
Da das Kriegsgeschehen sich zunehmend an die Front verlagert hat und das Binnenland weniger in Mitleidenschaft gezogen wird, Städte wie Kiew, Charkiw oder Lwiw inzwischen auch gut geschützt sind, fällt das gesellschaftliche Leben auseinander: Im Hinterland hat es sich weitgehend normalisiert und wäre es nicht wegen der Päckchen mit Grundausrüstung, die Angehörige, Gewerkschaften oder Freiwilligenstrukturen für die Soldaten packen, würde man hier vom Krieg nicht viel mitkriegen. Je weiter man nach Westen geht, umso mehr trifft das zu. Die Gesellschaft ist gespalten in diejenigen, die jemanden an der Front haben, und den anderen.
Zwei Entwicklungen
Die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft ist ambivalent. Auf der einen Seite gibt es den gemeinsamen Willen, den Krieg zu gewinnen. Auf der anderen Seite ist der Staat weder fähig noch willens, die Bedürfnisse seiner Soldaten deshalb in den Mittelpunkt einer gesellschaftlichen Kraftanstrengung zu stellen – dafür ist die Ukraine zu sehr eine Klassengesellschaft. Der Staat ist aber auch zu schwach, um sich mit diktatorischen Maßnahmen durchzusetzen. Überdies gehorcht er seinen ausländischen Gläubigern, ohne deren finanzielle und materielle Unterstützung er schon längst hätte kapitulieren müssen. Die ausländische Finanzhilfe macht die Hälfte des Staatshaushalts aus.
So gibt es zwei Entwicklungen: Desertion und Substitution des Staates durch private Initiative.
Auf zivilem Gebiet zeigt sich die Substitution in der ungeheuren Eigeninitiative, die die Gesellschaft entwickelt, um ihre Angehörigen an der Front zu unterstützen, aber auch in den Leistungen der Vielzahl von großen und kleinen Nicht-Regierungsorganisationen beim Ausgleich staatlicher Defizite vor allem im Bereich der Infrastruktur. Die NGOs stellen eine große Macht dar und sichern schon jetzt im Alltag ausländischen Einfluss.
Ansätze zur Substitution zeigen sich aber auch bei der Kriegführung. Trotz aller NATO-Unterstützung hängt die Armee von privaten Spenden ab. Private Vereine sorgen für das Training von Soldaten an Hightechgeräten. Private stellen Kampfmittel zur Verfügung. Es gibt auch Initiativen zur Bildung von Privatmilizen, die den Krieg effektiver führen wollen. Die Armeeführung unterbindet das.
Desertion: Über die Zahl derer, die sich auf die eine oder andere Weise dem Krieg entziehen, gibt es naturgemäß keine statistischen Angaben. Belastbar scheinen Angaben, die uns für Arcelor Mittal in Krywyj Rih gemacht wurden – auch deshalb, weil Soldaten vorzugsweise aus Großbetrieben gezogen werden, da die Behörden hier an ihre Adressen herankommen und die Arbeitgeber mit einspannen können: Von den 22.000 Beschäftigten, die das Werk vor dem Krieg zählte, sind 3000 unter Waffen, 12.000 arbeiten noch im Werk, der Rest ist zu Hause bei der Hälfte des Lohns, weil Aufträge wegen der schwierigen Transportlage nicht ausgeführt werden können. Von den 3000 sind 106 gefallen, 23 sind spurlos verschwunden.
Mitte August zählte der US-Geheimdienst 70.000 Tote auf ukrainischer Seite, darunter über 9000 Zivilisten. Überträgt man das Verhältnis der toten Soldaten zu den Kriegsflüchtigen vom Betrieb auf das Land, kommt man auf rund 16.000 Männer, die sich dem Kriegsdienst entzogen haben. Connection e.V., die Organisation, die Kriegsdienstverweigerer und Deserteure auf beiden Seiten unterstützt, spricht von 170.000 Männern, die seit Kriegsbeginn »aus Furcht vor der Einberufung die Ukraine verlassen haben«. Nach Angaben des Vereins leben fast 650.000 ukrainische Männer derzeit im Ausland. Der genannten US-Quelle zufolge hat die Ukraine insgesamt 500.000 Soldaten.
Bei diesen Zahlen kann man mit Fug und Recht davon sprechen, dass die Absetzbewegung nennenswert zum Personalmangel an der Front beiträgt. Anders ausgedrückt: Das Land ist in Bezug auf das persönliche Verhalten gegenüber dem Krieg gespalten.
Das schlägt sich auch in Umfragen nieder: 30 Prozent wollen, dass der Krieg sofort aufhört. 30 Prozent lehnen alle Optionen für einen Kompromiss ab. 24 Prozent würden den Kampf trotz anhaltender Besatzung einstellen; 13 Prozent halten territoriale Zugeständnisse für denkbar; 8 Prozent wären zu solchen bereit. 28 Prozent können sich vorstellen, auf eine Mitgliedschaft in der NATO zu verzichten, 27 Prozent sagen das in bezug auf die EU.2
Was haben wir von der Reise mitgenommen?
Vor allem zwei Dinge:
– Den Eindruck einer großer Solidarität, zumindest in Gewerkschaftskreisen, die oftmals Beweggrund für Arbeitskämpfe ist, trotz der vielen Steine, die Regierung und Unternehmer in den Weg legen. Diese Kolleg:innen, die sich jetzt für ihre Rechte organisieren und die »tiefe soziale Ungerechtigkeit« empfinden, von der Juryj Samojlow sprach, werden, wenn die Waffen schweigen und das Kriegsrecht aufgehoben ist, für die Opfer, die sie gebracht haben, eine Entschädigung – d.h. ein Mitspracherecht beim Wiederaufbau der Ukraine verlangen. Das ist natürlich ganz und gar nicht im Sinne des Internationalen Währungsfonds und der privaten Investoren, die jetzt schon das Land unter die Schuldenknute nehmen.
– Wie alle osteuropäischen postsowjetischen Gesellschaften orientiert sich die Bevölkerung der Ukraine nach Westen. Die Gewerkschaften stehen dabei gleichzeitig (wenn auch nicht alle im selben Maße) im Streit mit der Regierung und dem Oligarchensystem; viele hoffen, dass die Übernahme westlicher Rechtsstaatsregeln sie von letzterem befreit. Sie wollen die sowjetischen Verhältnisse hinter sich lassen und eine neue Ukraine aufbauen. Dabei lernen sie jetzt schon, dass die Aushöhlung des Arbeitsrechts das Land fit machen soll für die westlichen Investoren und nicht alles gut ist, was aus dem Westen kommt. Dennoch liegt in ihrem Willen auch eine Kraft.
Den Quantensprung wagen?
Der Krieg in der Ukraine ist das Produkt des Zerfalls der Sowjetunion und des nachfolgenden Einfalls von Schwärmen von Leichenfledderern – einheimischen wie solchen aus dem westlichen Ausland: Oligarchenkapitalismus bzw. Wild-West-Kapitalismus. Wie die Balkankriege 1912/13 ein Produkt des Zerfalls des Osmanischen Reichs und der Donaumonarchie waren und den Ersten Weltkrieg in sich trugen, so ist auch der Krieg in der Ukraine ein Vorbote des Dritten Weltkriegs. Das ist deutlich daran zu erkennen, dass trotz erheblicher Ermüdungserscheinungen auf amerikanischer wie auf russischer Seite der Wille ungebrochen bleibt, den Konflikt militärisch zu lösen.
Bisher setzt die große Mehrheit in der Ukraine noch auf Sieg, obwohl selbst der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Waleryj Saluschnyj, Zweifel an diesem Ausgang geäußert hat. Alle gehen davon aus, dass der Krieg sich noch lange hinziehen wird; und das würde er selbst dann, wenn es gelingen sollte, ihn einzufrieren. Denn Kräfte, die sich nicht damit abfinden wollen, gibt es auf beiden Seiten genügend. Solange es keine politische Lösung des Konflikts gibt, wird er eine offene Wunde bleiben. Das schafft kein günstiges Investitionsklima und ist für jede Art von Wiederaufbau eine schwere Hypothek.
Andererseits: »Die Angst, dass es weniger Hilfe aus dem Westen für die Ukraine geben kann, ist vor allem bei Politikern groß«, sagt die freie Journalisten Daniela Prugger im Schweizer Radio und Fernsehen (SRF). Die Menschen, die den Krieg führen müssen und ihn erleiden, wollen zunehmend, »dass das alles aufhört« – umso mehr, je näher an der Front sie leben. »Das ist ein Unterschied zum vergangenen Jahr.«
Mehrere Gründe zeichnen sich ab, weshalb die Ukraine unter den gegebenen Umständen den Krieg nicht gewinnen kann:
– Zum einen ist da die schon häufiger genannte Asymmetrie zwischen der Ukraine und Russland hinsichtlich der Bevölkerungszahl und der Leistung der Rüstungsindustrie.
– Zweitens bekommt die ukrainische Armee zunehmend ein Personalproblem, das schildern sie selbst, die eingezogenen Soldaten sind erschöpft und das Reservoir an Nachwuchs wird bei anhaltender Abwanderung knapp.
– Knapp werden auch die Waffen. Die Ukraine hat keinen militärisch-industriellen Komplex in der notwendigen Größenordnung mehr; sie kann nicht in großem Stil produzieren, auch wegen der russischen Luftangriffe auf die kritische Infrastruktur. Die Bestände der NATO entleeren sich allmählich, ihre Produktionskapazitäten müssten hochgefahren werden, das dauert Jahre.
Markus Reisner, Militärexperte des österreichischen Heeres, der das gegenüber dem SRF im vergangenen November ausführte, schließt daraus: »Die europäische Rüstungsindustrie war auf einen derartigen Konflikt nicht vorbereitet … Man ist in Europa nicht in eine Art Kriegswirtschaft übergegangen, um große Mengen Munition herstellen zu können.«
Diesen Übergang zu einer Kriegswirtschaft hält er für nötig, um ein anderes Kräfteverhältnis herzustellen. In der deutschen Politik fällt das auf fruchtbaren Boden: Verteidigungsminister Pistorius rührt seit Monaten die Kriegstrommel, die deutsche Gesellschaft müsse »kriegstüchtig« werden. Das heißt nicht nur viel mehr Geld für die Bundeswehr, es soll vor allem die Gesellschaft darauf eingeschworen werden, dass sie sich – obwohl von Russland kein Angriff droht, wie er zugeben muss – für einen russischen Angriff rüstet; die alte Abschreckungstheorie feiert fröhliche Urständ.
Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Think Tank der deutschen Außenpolitik, schreibt in einem Beitrag vom 8.November: »Deutschland muss einen Quantensprung wagen: Die Bundesregierung muss binnen kürzester Frist die Bundeswehr personell stärken, die Rüstungsproduktion ausweiten und die Resilienz verbessern. Voraussetzung dafür ist ein Mentalitätswechsel in der Gesellschaft.« Innerhalb von sechs bis zehn Jahren müsse die NATO in der Lage sein, Krieg mit Russland zu führen.3
Kriegswirtschaft heißt: Alle Ökonomie wird auf die Kriegsfähigkeit ausgerichtet; ein einjähriger Zwangsdienst (»Resilienzpraktikum«) ist angedacht. Es heißt Militarisierung der Köpfe und der Gesellschaft und Herstellung der Bereitschaft, auch einen Atomkrieg hinzunehmen.
Will man den Krieg in der Ukraine so lange am Kochen halten? Um eine Dauerbedrohung aus Moskau herbeizuphantasieren, scheint dies erforderlich. Schließlich leuchtet die Kraftanstrengung niemandem ein, wenn Ruhe an der Front ist.
Arbeitsteilung
Auch von anderer Seite wächst der Druck. In Washington ist man mit Selenskyj unzufrieden; Außenminister Blinken gibt laut Financial Times zu verstehen, dass er Saluschnyjs Ansicht über die Kriegsaussichten teilt. In Kiew gibt Selenskyj Durchhalteparolen aus, zögert die anstehenden Präsidentschaftswahlen aber hinaus, weil er sie laut Umfragen derzeit verlieren würde. Blinken würde Saluschnyj gern als neuen Präsidenten der Ukraine sehen. Ein General an der Spitze des Staates, dem vielleicht auch noch zugetraut würde, die Korruption erfolgreicher zu bekämpfen und insgesamt »ein besseres Investitionsklima zu schaffen«, wäre aber nichts anderes als eine Militärregierung.
Ist das gleichbedeutend mit der Suche zumindest nach einem Einfrieren des Konflikts? Danach sieht es nicht aus. Es kann auch heißen, ihn als Krieg niedriger Intensität fortzusetzen. Der innenpolitische Druck, die Militärhilfe an die Ukraine zu kürzen, wächst in den USA – und damit die Bemühungen, die Lasten auf andere Schultern abzuwälzen. Und wer wäre dazu nicht prädestinierter als Deutschland? In seiner Rolle als gehorsamer Fußsoldat der USA heißt die Ansage von Pistorius nichts anderes, als dass die Bundesregierung sich auf diese Rolle vorbereitet.
Es wäre möglich, den Konflikt einzufrieren – wenn der Wille da wäre, China mit ins Boot zu holen, um den notwendigen Druck auf Putin auszuüben. China eine so wichtige Mittlerrolle zuzugestehen, ist aber politisch nicht gewollt, schließlich hat man das Land gerade als »Gegner« ausgemacht.
Solidarität
Die Ukraine war vor dem Krieg keine Kolonie. Nach dem Krieg wird sie eine solche werden – auch ihr militärisch unbesetzter Teil, dafür sorgen ihre Staatsschulden (zum heutigen Tag über 150 Mrd. Dollar) und die enorme Hilfe für den Wiederaufbau, die sie benötigt. Je eher die Waffen schweigen und die Kräfte auf den Wiederaufbau konzentriert werden (anstatt dass die Hälfte des Militärhaushalts in die Rüstung fließt), desto größer sind die Chancen dafür.
Damit die Schulden aber nicht jeden Ansatz dazu verunmöglichen, ist die Solidarität der Linken und der Gewerkschaften gefragt, in mehrerlei Hinsicht:
– Es braucht eine Kampagne für die Schuldenstreichung. Bezahlen soll sie die Rüstungsindustrie, sie hat schließlich den größten Profit aus dem Krieg gezogen.
– Die Gewerkschaften müssen in der EU endlich höhere Sozialstandards durchsetzen und zur Bedingung für einen Beitritt der Ukraine machen. Zugleich müssen sie sich mit aller Kraft gegen das Märchen vom drohenden Angriff Russlands auf die EU und den daraus abgeleiteten Rüstungsplänen stemmen.
– Der Austausch mit den ukrainischen Kolleginnen und Kollegen muss erheblich intensiviert werden, vor allem die persönlichen Beziehungen müssen ausgebaut werden, damit Krieg und Wiederaufbau nicht abstrakte rechnerische Größen bleiben.
– Statt an der Hoffnung festzuhalten, Russland könne, mit dem Hebel der Ukraine, doch noch militärisch in die Knie gezwungen werden, muss eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Perspektive entwickelt werden, die beide Länder von fossilen Energien unabhängig macht und aus ihrer Rolle als Rohstofflieferanten (auch von Agrarprodukten) herausführt.
Das wäre eine linke Wiederaufbauperspektive, über die zu diskutieren sich lohnen würde. Hier liegt auch eine Aufgabe für die Klimagerechtigkeitsbewegung.
Die allererste Forderung aber ist und bleibt die nach einem sofortigen Waffenstillstand. Ohne den ist alles andere Schall und Rauch.
1 Siehe hierzu die Monatsberichte über Arbeitskämpfe auf dem Ukraine-Blog: www.sozonline.de/2023/12/fortlaufend-arbeitskaempfe-1123/.
2 Hélène Richard: »Arbeiten, kämpfen, durchhalten«. Krieg und Alltag in der Ukraine. Le Monde Diplomatique, November 2023.
3 https://dgap.org/de/forschung/publikationen/den-naechsten-krieg-verhindern-edina-iii.
Siehe auch das sehr kenntnisreiche Interview mit der ukrainischen Journalistin Janina Sokolowskaja in der Berliner Zeitung vom 25.11.23, https://epaper.berliner-zeitung.de/article/ebaf9d3304f0aadbb0b650cd3f6a1bcbc71ea76958f6d3fb50ada91df6eb316a.
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