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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 02/2024

Neuer G20-Prozess in Hamburg
von Ayda Kamen

Am 18.Januar starteten am Hamburger Landgericht erneut Prozesse gegen sechs angeklagte Demonstrant:innen, darunter Mitglieder eines damaligen Bonner Jugendvorstands der Gewerkschaft Ver.di aus NRW und eine Vertrauensfrau der IG Metall. Bis August 2024 sind 25 Prozesstage angesetzt worden.

Vorgeworfen werden ihnen keine individuell begangenen Straftaten, sondern die bloße Anwesenheit bei einer G20-kritischen Demonstration am 7.Juli 2017 in Hamburg, die in der Straße »Rondenbarg« von einer Sondereinheit der Polizei eingekesselt und äußerst brutal aufgelöst wurde.
Mehr als 100000 Menschen hatten damals gegen das Treffen von Trump, Erdogan, Putin und anderen G20-Staatschefs demonstriert, die Jugendorganisationen mehrerer Gewerkschaften und viele andere Organisationen hatten 2017 mit »Jugend gegen G20« und »BlockG20« zur Blockade der Zufahrtswege und zivilem Ungehorsam in Hamburg aufgerufen, nicht ohne Erfolg.
Am »Rondenbarg« war allerdings eine Demonstration noch vor Erreichen der Innenstadt in menschenleeren Straßen mit Wasserwerfern, Fäusten und Schlagstöcken traktiert worden. 14 Demonstrant:innen wurden ins Krankenhaus gebracht, elf davon schwerverletzt. Kein Polizeibeamter kam zu Schaden. Die Betroffenen berichten von Platzwunden, offenen Knochenbrüchen und einem angebrochenen Halswirbel.
In ihrer Anklage stützt sich die Staatsanwaltschaft nun erneut auf ein juristisches Konstrukt aus einem BGH-Urteil gegen Fußball-Hooligans, das erstmals auf Demonstrationen angewendet werden soll. Die bloße Anwesenheit soll ausreichen, um Demonstrierende als »Mittäter« zu brandmarken und mit mehrjähriger Haft zu bestrafen. Der BGH selbst schließt genau diese Übertragung auf Demonstrationen in seinem Urteil jedoch ausdrücklich aus. Sieben Jahre nach dem G20-Gipfel nun also ein Großangriff der Hamburgischen Staatsanwaltschaft auf das Demonstrationsrecht.

Konstruierte Vorwürfe
Ihr Verfolgungseifer war nach dem G20-Gipfel groß: 2017 war im gleichen »Rondenbarg«-Verfahren der minderjährige italienische Azubi Fabio V. angeklagt worden, er musste sogar fast fünf Monate in Untersuchungshaft verbringen. Amnesty International kritisierte bereits damals die Hamburger Justiz und Staatsanwaltschaft, und das Verfahren wurde schließlich ohne Schuldfeststellung nach einem Paragrafen eingestellt, der angewendet wird, »wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre und kein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht«.
Am ersten Prozesstag im Januar 2024 ließ die Richterin Sonja Boddin allerdings die Staatsanwaltschaft mit diesem offen antidemokratischen Vorgehen abblitzen und signalisierte vielmehr, dass eine Einstellung der Verfahren naheliege – allerdings gegen die Zahlung einer Strafe. Das schließe dann insbesondere eine Entschädigung der Betroffenen für die Kosten und Folgen der Prozessführung und erlittenes Unrecht weitgehend aus.
Am ersten Verhandlungstag wurde zudem bekannt, dass der ungeheuerliche Verdacht nicht ausgeschlossen ist, dass polizeiliche Provokateure aus der Demonstration heraus Steine geworfen haben oder in anderer Art und Weise, bspw. durch die Platzierung falscher »Beweise«, an der Vorbereitung der Strafverfolgung beteiligt gewesen sein könnten. Mitglieder der Polizeieinheit Blumberg hätten dieses Verständnis von ihrer »Polizeiarbeit« sogar öffentlich zu Schau gestellt, so der Anwalt eines der Angeklagten.
Er schilderte, wie bei einem »Tag der offenen Tür« in der Polizeikaserne, Mitglieder dieser Polizeieiheit mit »ziviler Tarnkleidung« und vermummt das Werfen von Steinen oder Pyrotechnik vorführten. Die für die Gewalt am »Rondenbarg« maßgebliche Polizeieinheit »BFE Blumberg« aus Brandenburg ist für ihre Brutalität bundesweit bekannt.

Auf die Anklagebank gehört die Polizei
Bei einer kurzfristig einberufenen Pressekonferenz sprachen am Morgen des Prozessauftakts am 18.Januar vor dem Hamburger Landgericht Gabriele Heinecke, Verteidigerin von Fabio V. in den Jahren 2017–2023, sowie von seinen jetzigen Verteidigern im aktuellen Prozess Ulrich von Klinggräff, Mitglied im erweiterten Vorstand des Republikanischen Anwaltvereins (RAV).
In der Woche zuvor hatten prominente gewerkschaftliche Stimmen wie der Hamburger Landesbezirksvorstandsvorsitzende von Ver.di, Olaf Harms, und Rolf Gössner, Jurist und Publizist von der Internationalen Liga für Menschenrechte und Ver.di-Mitglied, sowie Rolf Becker, ebenfalls Ver.dianer, zur Solidarität und Prozessbegleitung aufgerufen. Mehr als hundert Menschen waren am 18.Januar diesem Aufruf vor das Gericht und in den Saal gefolgt:
»Keinem der sechs Angeklagten wird eine individuelle Tat vorgeworfen: Wegen bloßer Anwesenheit sollen Demonstrierende … zu Haftstrafen verurteilt werden. Dieses Vorgehen der Staatsanwaltschaft würde dazu führen, Kollektivstrafen gegen Demonstrierende zunehmend als Standard zu etablieren. Das ist ein massiver Angriff gegen die Demonstrationsfreiheit und unsere Grundrechte.«
Dem Aufruf der Initiative »Grundrechte verteidigen!«, der auch von Amnesty International Deutschland verbreitet wurde, schlossen sich seither weitere Hunderte Menschen an, darunter Mitglieder des Europaparlaments, Gewerkschaftssekretär:innen, Mitglieder der Hamburgischen Bürgerschaft, Anwält:innen, Kulturschaffende und Theolog:innen.
»Mehr als sechs Jahre nach dem G20-Gipfel ist der nun beginnende Prozess der dritte Versuch, alle am Rondenbarg Eingekesselten und von der Polizeigewalt Betroffenen in Umkehr der Tatsachen als Angreifende zu definieren und kollektiv zu bestrafen. Sollte sich dieser Ansatz der Staatsanwaltschaft durchsetzen, wäre es ein Risiko, gemeinsam für eine Sache auf die Straße zu gehen. Das kann dazu führen, dass Menschen aus Angst auf die Ausübung ihrer Grundrechte verzichten. Dann hieße es nämlich in Zukunft: ›Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen!‹«, so Gabriele Heinecke, bis 2023 Strafverteidigerin von Fabio V. und Mitglied im Republikanischen Anwaltsverein.
Der Bürgerrechtler Rolf Gössner (Bremen) forderte angesichts des Verfahrens »eine unabhängige Untersuchung und Aufarbeitung der Polizeistrategie und -maßnahmen während des G20-Gipfels in Hamburg. Denn es gab zahlreiche Vorwürfe schwerwiegenden Fehlverhaltens sowie überzogener und willkürlicher Polizeigewalt. Doch die strafrechtliche ›Aufarbeitung‹ ist letztlich fehlgeschlagen: Fast alle der über 160 Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung im Amt sind eingestellt worden – kein einziger der beteiligten Polizisten musste bislang vor Gericht. Deshalb braucht es endlich eine unabhängige und transparente Untersuchung der G20-Geschehnisse, was ohne starken zivilgesellschaftlichen Druck kaum zu erreichen sein wird.«

Der Autor gehört der 2017 gegründeten Initiative »Grundrechte verteidigen!« an. Die Initiative aus Parteien, Organisationen, Anwält:innen und Einzelpersonen organisiert seit dem G20-Gipfel Kongresse, Demos und Kampagnen rund um Einschränkungen der Versammlungsfreiheit.
Der Aufruf kann online unter www.grundrechteverteidigen.de/ unterzeichnet werden. Er ruft auch dazu auf, jeden Prozesstag mit morgendlichen Kundgebungen vor dem Hamburger Landgericht am Sievekingplatz zu begleiten. Die nächsten Termine sind der 8. und 9.Februar ab 8 Uhr.

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